Interpretation als Vergegenwärtigung

Früher omnipräsent, heute eine Rarität, zielt «La Juive» von Fromental Halévy auf Breitwandwirkung. Peter Konwitschnys Inszenierung in Gent verfolgt gerade das Gegenteil – sehr zum Wohl der Oper.

Peter Hagmann
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Der Regisseur Peter Konwitschny hat das Stück «La Juive» seiner gattungsbedingten Zutaten entkleidet und es mit einer Konsequenz sondergleichen auf seinen Kern zurückgeführt. (Bild: Annemie Augustijns)

Der Regisseur Peter Konwitschny hat das Stück «La Juive» seiner gattungsbedingten Zutaten entkleidet und es mit einer Konsequenz sondergleichen auf seinen Kern zurückgeführt. (Bild: Annemie Augustijns)

Farbenfrohe Aufzüge mit Chor und Figuranten, wallende Gewänder, pompöse Fanfaren aus dem gross besetzten Orchester, dazwischen eine leider unmögliche und darum tragische Liebesgeschichte – solches darf erwarten, wer sich einer Grand Opéra aussetzt. «La Juive» von Fromental Halévy, nach ihrer Pariser Uraufführung von 1835 eine der erfolgreichsten Opern ihrer Zeit, heute aber vergessen, ist eine Grand Opéra. Wer das Stück in der neuen Produktion sieht, wie sie die Flämische Oper in ihrer Spielstätte in Gent vorgestellt hat, erfährt allerdings rein gar nichts vom Charakter einer Grand Opéra.

Denn der Regisseur Peter Konwitschny, nach wie vor einer der prominentesten Vertreter der nicht bloss illustrierenden, sondern kräftig interpretierenden Regie, hat das Stück seiner gattungsbedingten Zutaten entkleidet und es mit einer Konsequenz sondergleichen auf seinen Kern zurückgeführt. Vom Kolorit übrig geblieben ist einzig eine prachtvolle Rosette im Hintergrund der von Johannes Leiacker konzipierten Bühne; dass das Libretto von Eugène Scribe das Geschehen in der Zeit des Konzils von Konstanz verankert, dass es einen Konflikt zwischen zwei Vertretern des christlichen und des jüdischen Glaubens exponiert und dass der Jude wie der Christ sein Fett abbekommt – von alldem ist hier nicht die Rede, ja selbst die allseits begehrte stumme Rolle des Kaisers Sigismond wurde kurzerhand gestrichen. Von den für eine Aufführung in der Pariser Opéra obligatorischen Balletten ganz zu schweigen.

Vorgeführt wird hier vielmehr eine sehr heutige Parabel über den Fanatismus und seine Folgen: ein Lehrstück in guter Brechtscher Manier und ein Thema, wie es geradewegs der Jetztzeit entstammen könnte. Alle, die an diesem Abend auf die Bühne treten, haben schmutzige Hände; die der Mehrzahl, es sind die Christen, sind blau, jene der Minderheit, mithin der Juden, sind gelb. Nur einer trägt Blau wie Gelb. Es ist der Reichsfürst Léopold, der mit der kaiserlichen Eudoxie verlobt ist, der sich aber als jüdischer Künstler ausgibt, um so eine heimliche Beziehung mit Rachel, der (vermeintlichen) Tochter des Goldschmieds Eléazar, zu führen – was schrecklich misslingt. Denn die Gesetze sind unerbittlich, auf beiden Seiten; sie werden von Kardinal de Brogni unerbittlich, von Eléazar geradezu grausam verteidigt. Die hohen Türme mit ihren chromglänzenden Gitterstäben und ihren erbarmungslos kalten Neonlichtern setzen das auf der Bühne in ein Bild von mächtiger Wirkung – das ist vielleicht die einzige Spur der Grand Opéra in dieser Inszenierung.

Während diese auf Schauvergnügen und Repräsentation ausgerichtete Gattung Distanz schafft, zielt Peter Konwitschny gerade aufs Gegenteil. Er fokussiert extrem auf die einzelnen Figuren und zieht sie wie mit einem Zoom heran. Auch bei dem von Jan Schweiger vorbereiteten Chor, der in bewährter Felsenstein-Manier hochgradig individualisiert ist – und zugleich eben doch, wie im choreografisch verwurzelten Theater von Ruth Berghaus, in sehr elegantem Bewegungsrhythmus geführt wird. Erhöht wird die unmittelbare Wirkung der Produktion dadurch, dass sich einzelne Akteure, ja einmal sogar der Chor unters Publikum mischen und den Zuschauer sehr direkt ansprechen; im Verein mit der ausgebauten Figurenzeichnung ergibt sich hier eine Gegenwärtigkeit, der das Singen als ein von Grund auf artifizielles Ausdrucksmittel absolut nicht in den Weg tritt. Kommt schliesslich hinzu, dass Konwitschny die emotionalen Spannungen zwischen den Figuren szenisch überaus virtuos umsetzt, dass die vom Stück exponierten Vorgänge durch ihre Darstellung also zusätzliche Sprengkraft erhalten.

Fanatismus, neben dem Egoismus eines der Grundübel unserer Zeit – das wird einem in dieser Produktion von Halévys «Juive» förmlich eingehämmert. So sehr, dass sich im Lauf des ausgedehnten Opernabends bisweilen Ermüdungserscheinungen bemerkbar machen. Oder geht das Nachlassen des Interesses vielleicht auf die insgesamt doch eher dürftige musikalische Substanz des Stücks zurück? Dem Dirigenten Tomáš Netopil ist es jedenfalls nur bedingt gelungen, die Partitur in jenem bedrängenden Feuer auflodern zu lassen, das auf der Bühne entfacht wird. Das Orchester der Flämischen Oper klang an der Premiere hart und grob; von der samtenen Geschmeidigkeit, die es unter seinem Chefdirigenten Dmitri Jurowski zu erreichen vermag, war wenig zu hören.

Gesungen wurde aber durchs Band hervorragend. Roberto Saccà liess in der Figur des Goldschmieds Eléazar nicht nur Dogmatismus, sondern auch eine Spur Verzweiflung aufscheinen, während Dmitry Ulyanov seinen nicht minder sturen Gegenspieler de Brogni mit geradezu menschlicher Kontur versah. Sehr anständig Randall Bills als der junge, zwischen Pflicht und Neigung stehende Reichsfürst Léopold. Die beiden Frauen aber waren, ganz der Inszenierung entsprechend, scharf gegensätzlich besetzt. Während Nicole Chevalier die an Koloraturen reiche Partie der Eudoxie mit hellem, leichtem Timbre brillant meisterte, war Asmik Grigorian als die angeblich jüdische Rachel eine Frau von (auch stimmlich) imposanter Kraft. Wie hier bei aller Freiheit, die sich der Regisseur herausnahm, die Vorlage und ihre Interpretation zueinanderfanden, kam in diesem Fall zu besonders eindringlicher Wirkung.