Vergebliche Behutsamkeit

Nicht von Rossini, sondern von Paisiello stammt der «Barbiere di Siviglia», den das Theater an der Wien derzeit zeigt. Trotz hohem musikalischem Einsatz ist das Stück für die Bühne nicht zu retten.

Daniel Ender
Drucken
In pointierter Aufführung: Mari Eriksmoen als Rosina in Paisiellos «Barbiere di Siviglia». (Bild: Herwig Prammer)

In pointierter Aufführung: Mari Eriksmoen als Rosina in Paisiellos «Barbiere di Siviglia». (Bild: Herwig Prammer)

Wie gerecht ist die Musikgeschichte? Ist Verlass darauf, dass das Beste überdauert? Bewahrt der komplexe Prozess der Kanonisierung tatsächlich das Bewahrenswerte? Wie verschieden das Phänomen der «Grösse in der Musik» im zeitlichen Verlauf beurteilt wird, hat Alfred Einstein in seinem gleichnamigen Buch 1949 beschrieben. Es ist immer wieder verblüffend, wie sehr sich das Urteil der Mitwelt von jenem der Nachwelt unterscheiden kann – und zwar nach beiden Richtungen.

Kein göttlicher Funke

Im Falle von Giovanni Paisiellos «Barbiere di Siviglia» (1782) lässt sich immerhin nachvollziehen, wie die über Jahrzehnte viel gespielte Opera buffa von Rossinis gleichnamigem Werk (1816) verdrängt wurde. Dabei schätzte der Jüngere seinen Kollegen ungemein, schrieb ihm einen Brief, er wolle ihm keineswegs Konkurrenz machen, und bekannte sogar, er habe auf die Vertonung einer Nummer verzichtet, weil das niemand besser könne als Paisiello. Mozart verfasste nicht nur eine Einlagearie für dessen Erfolgsstück, sondern holte sich Anregungen für die Kompositionsweise von Ensembleszenen, mitunter für Charakter, Instrumentation und Melodik ganzer Arien.

Womöglich steuerte auch Haydn eine Ergänzung bei, die auf Schloss Esterházy gespielt wurde. Von wem diese Passage am Ende des zweiten Aktes tatsächlich stammt, gilt als ungeklärt. Aber doch schien sie bei der jüngsten Premiere im Theater an der Wien durch ihren Witz und Esprit hervorzustechen. Denn allen aufschlussreichen Querverbindungen zum Trotz ist die Musik von Paisiello zweifellos handwerklich gediegen, stützt sie das Bühnengeschehen, ermöglicht sie es den Sängern, ihre Kunstfertigkeit zu demonstrieren. Zugleich bleibt sie jedoch sowohl in der Harmonik als auch in ihren Floskeln praktisch immer vorhersehbar. Und gleich, wie liebevoll man sich ihr zuwendet – ein göttlicher Funke ist schwerlich zu entdecken.

Dabei leistete René Jacobs in der Vorbereitung und in der Aufführung weit mehr, als es Dirigenten normalerweise tun. In mühevoller Kleinarbeit ergänzte er Varianten, belebte gleichförmige Orchesterstimmen durch neue Rhythmisierungen und animierte das wendige Freiburger Barockorchester zu reich akzentuiertem, farbenfrohem Spiel. Doch mehr als plausibel wirkte die Sache dennoch nicht. Daran änderte auch der grösstenteils hochkarätige sängerische Einsatz von Mari Eriksmoen als jugendfrischer, strahlender Rosina, Andrè Schuen als prägnantem, komödiantisch präsentem Figaro, Pietro Spagnoli als ziemlich vielschichtigem Bartolo und Topi Lehtipuu als als unsympathisch gezeigtem Almaviva wenig.

In gewisser Weise passte die Inszenierung von Moshe Leiser und Patrice Caurier durchaus zu Paisiello: In sich waren die Figuren differenziert gezeichnet, gewissermassen durchorchestriert und in ständiger Aktivität, durch die auch die humoristischen Situationen zumindest technisch funktionierten. Von Inspiration war aber ebenfalls wenig zu bemerken. Und auch die Entscheidung, das Stück im düsteren Bühnenbild von Christian Fenouillat und in den trüben Kostümen von Agostino Cavalca im Spanien der 1940er Jahre spielen zu lassen, sorgte zwar für einen bitteren Beigeschmack, wirkte aber eher wie eine Geschichtslektion als wie ein Vehikel künstlerischer Ideen.

Mozart als Stossseufzer

Dass das Orchester am Ende den Beginn von Mozarts «Figaro» spielte, war dabei nicht nur ein Hinweis darauf, wie der Beaumarchais-Zyklus im April weitergeht, bevor ihn im Mai «La mère coupable» von Darius Milhaud abschliesst. Es wirkte auch wie ein Stossseufzer. Denn in Bezug auf die aufwendige Produktion könnte der Untertitel der Oper («La precauzione inutile») nicht nur als «unnütze Vorsicht», sondern auch als «vergebliche Behutsamkeit» übersetzt werden, die insbesondere Jacobs dem Werk angedeihen liess. Der Rest ist Musikgeschichte.