Sie kennen keine Oper namens Perlenfischer - The Challenge? Aber Les pêcheurs de perles von Georges Bizet? Die auch nicht, denn das berühmte Duett und die Arie des Nadir allein zählen nicht? Grämen Sie sich nicht: Nachdem Sie gesehen haben, was Lotte de Beer im Theater an der Wien auf die Bühne gezaubert hat, werden Sie dieses Werk mit ganz anderen Augen sehen, und Ihnen wird vielleicht mehr dazu einfallen, als Sie je über eine Oper wussten – und Sie werden verstehen, wieso „The Challenge“ es auf den Punkt bringt.

Wir reden hier weder vom kompliziertesten, noch vom abstrusesten Werk der Opernliteratur – was dem Libretto fehlt und warum die Perlenfischer selten inszeniert werden, liegt nicht so sehr an mangelnder Plausibilität, sondern an Authentizität: Offenbar wollten Eugène Cormon und Michel Florentin Carré nach dem sprichwörtlichen Schema F einen Hit zu zusammenbasteln, ganz so wie heutige Fernsehmacher ein quotenträchtiges Format. Bizets zeitgenössischem Publikum war das zu wenig; man merkte die Absicht und war – bei aller musikalischen Qualität – verstimmt. Das moderne Publikum lässt sich hingegen routinemäßig und willig hinters Licht führen, denn einer Produktion, die mit allen Mitteln und Medien noch vor ihrem Erscheinen zum Must-see erklärt wurde, kann man sich nicht entziehen. Man schaut zu, egal wie, banal, stupide oder sogar ekelhaft das Gebotene ist, und wer nicht zuschaut, wird in der Zeitung damit konfrontiert – wir reden von Reality Shows und auch harmloseren Wettbewerben, bei denen das Publikum gegen Geld für seine Lieblinge (und im Umkehrschluss gegen andere) stimmen darf. Echt ist dabei nur der beinharte Konkurrenzkampf, alles andere mehr oder weniger gute (Selbst-) Inszenierung oder Regie.

Da lag es für Lotte de Beer also nahe, die Perlenfischer als Reality Show anzulegen: Am Originalschauplatz Ceylon reißt ein Fernsehteam den Einheimischen die nicht gerade telegenen Hütten ab (Bühne: Marouscha Levy) und steckt sie dafür in bunte Fantasiekostüme, damit das Publikum in Wohnzimmern, die beinahe über die gesamte Kulisse reichen, auch einen hübsche Hintergrund für diese Art von Dschungelcamp hat: Zurga wird zuerst zum Anführer der Einheimischen gewählt, pardon, gevotet, um sich dann sofort ins Privatleben zurückzuziehen, denn plötzlich taucht sein Jugendfreund Nadir auf. Beiden gefiel einst dieselbe Frau, doch verzichteten sie zugunsten ihrer Freundschaft auf die Liebe. Nun wäre es nicht Fernsehen (oder romantische Oper), wenn Leila nicht auch noch erschiene, und zu allem Überfluss als Priesterin keusch leben müsste.

Den Rest kann man sich denken, da nützt auch der Treueschwur im ersten Akt, eben das berühmte „Au fond du temple saint“, nichts: Der Tenor (Nadir) wird bei der Liebelei mit dem Sopran erwischt und beide erwartet wegen ihres Verstoßes gegen die Spielregeln der Tod, worüber dann nach der Pause des zweiten Akts am Naschmarkt philosophiert und abgestimmt wird (Video: Finn Ross). Das erschreckt ebenso wie die Kameraprobe für die Hinrichtung am Scheiterhaufen, bei der Hohepriester Nourabad (solide: Nicolas Testé) eine feierliche Fackelzeremonie im Stile der Olympischen Spiele anführt. Doch dann kommt alles anders… (bleiben Sie dran!)

Von der liebevollen Detailarbeit in der Personenregie profitieren alle Sänger. Hauptattraktion ist erwartungsgemäß Diana Damrau, die wie immer hinreißend singt und spielt, wiewohl sie „nur“ einen sehr guten und keinen perfekten Tag hatte. Von Dmitry Korchak hatte ich zuvor weder das eine noch das andere erlebt und war daher von der Leistung des Abends angenehm überrascht, zumal „Je crois entendre encore“ besonders gut gelang – das ohne Peinlichkeit in eine Kamera zu singen, die das Gesicht riesengroß auf den Bühnenhintergrund projiziert, das muss man können (und sich trauen). Ähnlich zu bewerten ist die Leistung von Nathan Gunn als Zurga. Sein Duett mit Leila, die ihn zuerst vergeblich um Gnade für Nadir bittet, um ihn dann doch durch ihre Gleichgültigkeit zu demütigen, war für mich der Höhepunkt des Abends; da gab es mehr Leidenschaft als in so manchem Carmen-Finale. Passenderweise war in dieser Szene und immer dann, wenn es um echte Menschen mit echten Gefühlen ging, das pizzaessende und sekttrinkende Publikum (ein Erlebnis für sich: der Arnold Schoenberg Chor) ausgeblendet, und auch das sonst omnipräsente Filmteam mit seinen exzellent besetzten stummen Rollen war verschwunden.

Faszinierenderweise verband sich dieser Wechsel zwischen Öffentlichem und Privatem mit der Musik, bei der Jean-Christophe Spinosi am Pult die „Show-Teile“ passend plakativ gestaltete. Besonders traf das auf das immer wiederkehrende Element des Freundschaftsschwurs zu, der quasi die Signation von Perlenfischer – The Challenge bildete, da war man auch als ausgewiesener Liebhaber dieser Oper geradezu verblüfft. Für das Freundschaftsduett hätte man sich vielleicht eine Überhöhung im Kitsch durch breites Auswalzen des Tempos erwartet, aber das geriet im Gegenteil ziemlich flott – mit etwas mehr Zeit zum Atmen hätte Dmitry Korchak noch mehr glänzen können. Dafür kostete Spinosi die erwähnten wahrhaftigen Momente detailverliebt aus, und das ORF Radio-Symphonieorchester Wien folgte der teils exotischen Rhythmik mit leuchtenden Orchesterfarben.

Wenn Sie also jemals Zeit in eine Reality Show investieren möchten, wissen Sie, was zu tun ist (sofern Sie die Möglichkeit haben): Perlenfischer – The Challenge kann man nur empfehlen.

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