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Bühne und Konzert Reality-Oper

Das Phantom des Dschungelcamps

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Verlogene Dreisamkeit mit Ballett vor Fernsehkameras: Nathan Gunn (Zurga), Diana Damrau (Leila) und Nicolas Testé (Nourabad) in „Die Perlenfischer“ in Wien Verlogene Dreisamkeit mit Ballett vor Fernsehkameras: Nathan Gunn (Zurga), Diana Damrau (Leila) und Nicolas Testé (Nourabad) in „Die Perlenfischer“ in Wien
Verlogene Dreisamkeit mit Ballett vor Fernsehkameras: Nathan Gunn (Zurga), Diana Damrau (Leila) und Nicolas Testé (Nourabad) in „Die Perlenfischer“ in Wien
Quelle: Werner Kmetitsch
Wenn der Zuschauer über den Tod der Helden bestimmt: Am Theater an der Wien werden Georges Bizets „Perlenfischer“ zu einer Selektionsshow wie im Privatfernsehen. Ist das noch Oper oder schon Trash?

Deutschland ist ein komisches Opernland. Man mag hier den Belcanto nicht besonders, außer man hat Edita Gruberova als Stratosphärennachtigall (wohl nicht mehr sehr lange) zur Verfügung. Und auch mit den exotischen Singstücken des 19. Jahrhunderts, welche die gen Asien weisende Fernwehsehnsucht einer untergegangenen Epoche ohne Film, TV und Urlaubsjets, aber mit damaliger Kolonialismusgegenwart auf die Bühne brachten, tut man sich schwer. Blicken wir doch beispielhaft nur in die indische Unterabteilung: So gut wie nie begegnet man in hiesigen Gefilden Werken wie Massenets „Der König von Lahore“, Félicien Davids „Lalla Roukh“, Leo Delibes „Lakmé“ oder Georges Bizets in Ceylon lokalisierten „Perlenfischern“.

Die letzten beiden können immerhin noch auf Wunschkonzertstücke wie die Glöckchen-Arie oder das in seligen Terzen sich wiegende Tenor-Bariton-Freundschaftsduett „Au fond du temple seint“ verweisen. Doch anders als etwa in Amerika, wo das in einer Francesca-Zambello-Inszenierung weit herumgereichte Werk wegen seiner hemdenlos auftretenden männlichen Besetzung in den letzten Jahren beinahe populär wurde und in Gestalt des muskulösen Nathan Gunn sogar einen neuen Sängertyp namens „Barihunk“ generierte, findet man die komplette Bizet-Oper auf deutschsprachigen Spielplänen höchst selten.

Doch, oh Wunder, am Theater an der Wien wurde das 1863, zwölf Jahre vor der weit handfesteren „Carmen“ uraufgeführte, vornehmlich lyrische Werk um zwei in die gleiche Tempelpriesterin verliebte Männer, Eifersucht, Treueschwüre, religiöse Bindungen, Verrat und Reue nicht nur in erster Linie für die hier keineswegs sonderlich geforderte Koloraturkönigin Diana Damrau inszeniert. Nathan Gunn war ebenfalls – mit Hemd und etwas hohlerem Bariton – ein weiteres Mal in seiner Paradepartie als zu spät einsichtig werdender Zurga dabei. Mit dem klangfein disponierenden, bisweilen ein wenig laut auffahrenden Jean-Christophe Spinosi stand zudem ein geneigter Alte-Musik-Experte mit der nicht in der Originalinstrumentierung überlieferten Partitur „Les pêcheurs des perles“ am Pult des satt tönenden ORF-Radiosymphonieorchesters.

Intelligent doppelbödige Aktualisierung

Vor allem aber gelang, ganz ohne Krampfigkeit und nur den finsteren Schluss ein wenig zurechtbiegen müssend, der jungen niederländischen Regisseurin Lotte de Beer eine intelligent doppelbödige Aktualisierung der dramaturgisch sonst allzu vorhersehbaren, freilich in schwelgerisch-süßen, weich pulsierenden Melodien sich wiegend wohlfühlenden Dreiecksgeschichte. Wobei ihr zeitgenössischer Ansatz an das ansonsten folkloristisch harmlose, aber fein gewirkt duftige Stück kein ganz neuer ist: De Beer inszeniert ihre „Pêcheurs des perles“ als brutale Challenge im ceylonesischen Dschungelcamp. Aber sie entwickelt diesen Ansatz so konsequent wie virtuos, so detailverliebt wie hochmoralisch und doch augenzwinkernd bis zum von satten 91 Prozent der Trash-TV-Zuschauer geforderten Feuertodfinale des fatalen Liebespaares.

Fernsehballett vor dem Scheiterhaufen
Fernsehballett vor dem Scheiterhaufen
Quelle: Werner Kmetitsch

Da werden gleich während der farbenprächtig getupften Ouvertüre die verslumten Ureinwohner aus ihren Weltblechhüten vertrieben, bevor die rücksichtslose Fernsehmannschaft mit dem viril tönenden, präsenten Nicolas Testé als Starmoderator (im Original: Dorfältester) Nourabad an der Spitze ihre Heile-Tourismuswelt-Kulissen aufbaut. Die stehen an einem Bilderbuch-Wohlfühlstrand (Bühne: Marouscha Levy), beherrscht von einer riesigen Sonnenscheibe aus der Requisite, die auf Sendungsdauer im Meer versinkt. Die wird freilich schnell durchscheinend und offenbart als gierige, live teilnehmende, auf diverse Wohnblockstockwerke und unterschiedliche soziale Ebenen verteilte Zuschauermasse den famos singenden, so auf seine Kommentatorenfunktion beschränkten, gleichwohl die folgenden Ereignisse herausfordernden und bestimmenden Arnold-Schönberg-Chor.

Alles ist Show und manipuliert, jeder spielt seine weitgehend gescriptete Rolle, auch der Kandidat Nadir des tenoral weißlich gefärbten, besonders in seiner Arie „Je crois entendre encore“ mit schönen Passaggio-Mischtönen im Piano aufwartenden Dimitry Korchak.

Balletthupfdohlen in Pappaustern

Big-TV-Mother is watching: „Die Perlenfischer“ als Reality-Show
Big-TV-Mother is watching: „Die Perlenfischer“ als Reality-Show
Quelle: Werner Kmetitsch

Problematisch wird es erst, als der in der yogagelenkigen, vom Sender als obligatorisches Augenfutter miteingespeisten, zwischen von Jorine van Bek grell gekleideten und aus Pappaustern springenden Balletthupfdohlen vor allem gute Figur im Sari machenden Leila seine frühere Flamme wiedererkennt. Weil Diana Damrau auch diese Rolle sich vehement einverleibt und mit jeder Phase ihres biegsamen Körpers wie ihrer noch flexibleren, längst auch mit heftiger Emotion belastbaren Stimmbänder lebt, entsteht so besonders in den ausufernden Duetten mit Nadir wie später Zurga eine selten erlebte dramatische Dringlichkeit.

Der scheinbar überraschungslos vorgezeichnete und knallhart durchkalkulierte TV-Wettbewerbsparcours zwischen knatschblauem Kitschtempel und „Ich offenbare alles“-Kamerabeichtstuhl wird so dank Zurgas Amoklauf plötzlich zu komplizierten, mit unerwartet amourösen, aber umso quotenträchtigeren, weil gefühlsechten Wendungen aufwartende Challenge auf Leben und Tod: bei der das reaktionsschnell von der Fernsehregie improvisierend via Naschmarkt-Videoumfrage eingeblendete Wiener Publikum so gnadenlos wie erschreckend für das Sterben des untreuen Paares votet.

Wer sich in die TV-Hölle begibt, kommt darin um

Am Ende schreitet es, gierig von Bierflaschenhaltern und Salzlettenfutterern in der Liegelandschaft aus virtuell sicherer Bildschirmentfernung beäugt, zum anbefohlenen Scheiterhaufen. Wer sich in die Fernsehhölle begibt, kommt darin um. Opernbrot und Mordsspiele – es hat sich über Jahrtausende nichts geändert.

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Man muss also die olle, scheinbar längst aus der Zeitgeschichte gefallene Exotismusoper nur gekonnt ernst nehmen. Dann verbindet sich, wie beispielhaft von Lotte de Beer vorgeführt, der zärtliche Zauber der alten Bizet-Partitur bruchlos mit der neuen, rüden Reality-TV-Welt in erbarmungsloser Großaufnahme. Und lässt einen so gleichzeitig akustisch genießen und optisch frösteln.

Termine: 25., 28., 30. November

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