Wenn alle gegen alle sind

Mussorgskys unvollendete Oper «Chowanschtschina» hat Konjunktur; drei Häuser bringen sie in diesen Tagen heraus. Das Stück ist, glaubwürdig interpretiert, von erschreckender Aktualität.

Peter Hagmann
Drucken
Heil und rein gehen sie in den Tod: Marfa (Julia Gertseva) und die Altgläubigen im Schlussbild von Mussorgskys «Chowanschtschina» in Antwerpen. (Bild: pd)

Heil und rein gehen sie in den Tod: Marfa (Julia Gertseva) und die Altgläubigen im Schlussbild von Mussorgskys «Chowanschtschina» in Antwerpen. (Bild: pd)

Das Stück ist ein Problem. Und eine Herausforderung, darum wird es nicht allzu häufig gespielt. «Chowanschtschina», von Modest Mussorgsky gedichtet und musikalisch skizziert, ist ein Steinbruch geblieben. Hinterlassen hat der Komponist bei seinem Tod 1881 einen Klavierauszug, aber auch den hat er nicht gänzlich abgeschlossen. Instrumentiert ist nichts, das haben andere an die Hand genommen – jeder auf seine Art. Nikolai Rimsky-Korsakow, der eine konventionellere Ästhetik vertrat als Mussorgsky, hat das Werk vollendet, es dabei jedoch abgemildert und geglättet. Später schlug die Stunde Igor Strawinskys, der ein neues Finale komponiert hat. Schliesslich hat Dmitri Schostakowitsch 1960 eine Fassung erstellt, die sich von der Rimsky-Korsakows radikal abhebt, nämlich näher bei Mussorgsky bleibt. Neues Licht auf das Werk hat Claudio Abbado gerichtet, der «Chowanschtschina» 1989 an der Wiener Staatsoper dirigiert hat; dabei ist er von Schostakowitsch ausgegangen, von dort aber zu seiner eigenen Mischfassung gelangt.

Feingeist gegen Machtprotz

Dieser Tage nun kommt neue Bewegung in den Fall. Innerhalb dreier Wochen gehen auf europäischen Bühnen drei (mehr oder weniger) neue Inszenierungen von «Chowanschtschina» in Premiere. Die von dem Zürcher Aviel Cahn geleitete Flämische Oper in Antwerpen und Gent machte den Anfang – und wenn nicht alles täuscht, ist mit dieser Produktion ein neuer Stand in der Auslegung von Mussorgskys Oper erreicht. Gespielt wird, von wenigen Eingriffen abgesehen, die Fassung Schostakowitschs. Und da Dmitri Jurowski ein äusserst hellhöriger, klanglich sensibler Dirigent ist und sich das Orchester der Flämischen Oper in ausgezeichneter Verfassung befindet, traten die Vorzüge dieser Einrichtung klar heraus. Schostakowitsch spiegelt die bedrohliche Grundstimmung der Oper in einem aufgelichteten Orchestersatz, in dem die einzelnen Instrumente markante Farben setzen; die Trompetenfanfaren fahren da als Zeichen der Macht erschreckend ein, während die Glocken aus dem Kreml dröhnend zu verstehen geben, auf welche Seite sich Gott geschlagen haben soll. Besonders eindrücklich geriet Jurowski der Umgang mit den tiefen Instrumenten, mit der Bassklarinette und dem Kontrafagott, vor allem aber den Posaunen, die gründlich schwarze Farbe auftrugen, ohne je das Geschehen zu dominieren. Das muss erst einmal gelingen.

Nicht minder hochstehend die vokale Seite. Allein der Chor (der in diesem Stück als Stimme des geknechteten Volkes eine zentrale Rolle spielt): Äusserst geschlossen im Klang, nicht immer ganz ausgeglichen zwischen den kräftig auftragenden Männer- und den etwas weniger präsenten Frauenstimmen, aber von umwerfender Strahlkraft – was der Chorleiter Jan Schweiger da zustande gebracht hat, hört man nicht alle Tage. Und dann das grosse Ensemble der Solisten, das im Wesentlichen durch Sänger aus der russischen Tradition gebildet ist: erstklassig bis in die kleinsten Partien hinein. Ausserdem wird hier nicht nur gesungen oder nicht nur agiert, sondern beides zugleich und in bemerkenswerter Übereinstimmung getan. Und das in einer Inszenierung, die sich nicht auf die Dekoration beschränkt, die vielmehr etwas aussagt: die kraftvoll deutet und die komplexe, vielschichtige Geschichte von «Chowanschtschina» in einer eigenwilligen, aber in sich stimmigen und darum packenden Weise erzählt.

Der qualvoll deutliche Unterschied zwischen Oben und Unten, die Rohheit der Machtausübung, das Leiden, aber stets auch das Agieren des Individuums in diesem Kampf aller gegen alle – all das wird scharf ausgespielt, doch nicht im Gewand der Ikonenmalerei dargeboten, nicht als ein Geschehen aus der fernen Zeit Peters des Grossen, sondern als eine Angelegenheit von heute, man muss bloss die Zeitung lesen. Und erzielt wird es mit wenigen, eindeutigen Strichen. Mit einem ebenso geschmacklosen wie riesigen Kronleuchter etwa, der sogleich an Immobilien denken lässt, die sich gewisse Herrschaften einzurichten beliebten. Oder einer Flasche Champagner, mit der sich der Feingeist Golizyn von dem Wodka kübelnden Sex- und Machtprotzen Chowanski abhebt.

Schattenspiele

Das Besondere an der Handschrift des Regisseurs David Alden besteht in einem ausgefeilten Sinn für die Bühnenwirkung. Und zwar im Grossen des Tableaus wie im Kleinen von Miene und Geste. Paul Steinberg hat zwei riesige halbrunde Wände auf die Bühne gestellt, die sich immer wieder wie zwei gewaltige Mühlsteine annähern. Sie bilden aber auch die Fläche, auf der sich dank der scharf zeichnenden Beleuchtung von Adam Silverman Schattenspiele der schauerlichsten Art ergeben. In diesem Ambiente tummeln sich Figuren wie der Strippenzieher Schaklowity. Oleg Bryak setzt einen herrlich dröhnenden, bisweilen auch gefährlich zurückgenommenen Bass ein. Und da Constance Hoffman, eine Meisterin der sprechenden Kostüme, für seinen fülligen Leib einen erstklassig geschnittenen Nadelstreifenanzug entworfen hat, dazu den langen schwarzen Mantel und den gar nicht auffälligen Schlapphut, wird er geradewegs zum Gerd Fröbe der Oper. Wenn er in einem Moment völliger Lautlosigkeit unendlich langsam von links nach rechts über die Bühne schleicht, wird er zum Theatertraum. Äusserst prägnant sind die Kontrahenten gezeichnet: der ganz aus dem Bauch heraus agierende Chowanski, den Ante Jerkunica mit voluminöser Tiefe versieht, der intrigante Intellektuelle Golizyn, der bei Vsevolod Grivnov und seinem hellen Tenor bestens aufgehoben ist, der für seinen althergebrachten Glauben ins Feuer gehende Dosifei, den Alexey Tikhomirov zu beeindruckender Statur bringt, oder die ebenso durchtriebene wie empfindsame Marfa, der Julia Gertseva ihren prachtvollen Mezzosopran leiht.

Ob dieses Russland sich nach Westen orientieren oder bei sich selber bleiben soll, die Frage ist nicht ganz unbekannt. Noch weniger unbekannt ist der Versuch, sie mithilfe des Schlagstocks zu beantworten. Davon erzählt Mussorgskys «Chowanschtschina» in Antwerpen in denkbar treffender Weise. Als ein Stück erfüllten Musiktheaters.