Theater an der Wien: Iphigénie in einem bösen Traum

FOTOPROBE 'IPHIGENIE EN AULIDE ET TAURIDE'
FOTOPROBE 'IPHIGENIE EN AULIDE ET TAURIDE'APA/GEORG HOCHMUTH
  • Drucken

Gluck im Doppelpack: Thorsten Fischer deutet „Iphigénie en Aulide et Tauride“ als Drama einer immer wieder aufs Neue zu erringenden Aufklärung.

Ein glückliches Ende sieht anders aus. Zum jubelnden Schlusschor kauern die Protagonisten an der Bühnenrampe, schmiegen sich erschöpft aneinander, sinnen dem durchstandenen Leid nach. Hinter ihnen lastet einem Mann ein großes Ruder wie der Querbalken eines Kreuzes auf den Schultern, er beugt sich langsam abwechselnd nach beiden Seiten: Zuvor hat er ein Priesterkollar getragen, ist mit sardonischem Lächeln und gezücktem Dolch den ganzen Abend einhergeschritten, unersättlich auf der Suche nach geeigneten Opfern und willigen Vollstreckern. Nun aber hat er sich halb entkleidet – und sein Tun hilft mit, in diesem letzten Bild das schwankende menschliche Schifflein im Ozean der scheinbar unzähmbaren himmlischen Mächte zu erkennen, dessen Wogen jedoch bloß von unseren Emotionen und niedersten Instinkten erzeugt werden.

Rache ist das Leit- und Leidmotiv des Mythenkreises um Agamemnon und seine unglückliche Familie. Christoph Willibald Gluck hat deren Schicksal in zwei separaten, für Paris geschaffenen und einflussreichen Reformopern verarbeitet: „Iphigénie en Aulide“ und „Iphigénie en Tauride“ – wobei die erste der beiden ein damals genreübliches glückliches Ende verpasst bekam und die Göttin Artemis (Diane bei Gluck) auf das Opfer der Titelfigur verzichtet und den Griechen auch so guten Wind nach Troja schickt. Kein Geringerer als Richard Wagner, naturgemäß von Gluck und seinen Forderungen nach einem Gesamtkunstwerk fasziniert, bearbeitete die Partitur, um sie „für die moderne Bühne wieder zu gewinnen“ – und errang mit seinem kreativen Historismus einst in Dresden mehr Kritikerlob als mit seinen eigenen Schöpfungen...

Ausgiebig von Blut befleckte Bühne

Bei Wagner „ist allerdings nur der Text zu lang, der hat doch geglaubt, was nicht zu lang ist, ist keine Oper. Eigentlich ist jede Oper zu lang, so kurz kann eine Oper gar nicht sein, dass sie nicht zu lang ist, verpatzt einem den ganzen Abend“: So darf Friedrich Cerhas „Onkel Präsident“, derzeit noch in der Volksoper, mit Bernhard'schem Einschlag schwadronieren. Demnach müssten zwei abendfüllende Opern hintereinander erst recht eine Zumutung darstellen. Im Theater an der Wien kann jedoch von solchem Unbill keine Rede sein. Thorsten Fischer, der dort in den vergangenen Jahren beide originalen „Iphigénie“-Opern Glucks aus stark menschlich-politischem Blickwinkel inszeniert hat, wollte von dem Stoff nicht ablassen. Gemeinsam mit dem Dirigenten Leo Hussein hat er nun, 300 Jahre nach Glucks Geburt, eine dreistündige Fassung vorgelegt: Mittels Kürzungen und sonstiger Adaptionen erzählt diese die komplette Geschichte der Iphigénie durchgehend; als Scharnier fungiert der direkte Übergang von Clytemnestres wütender „Jupiter“-Arie in den Sturm der „Tauride“-Ouvertüre. Szenisch hat Fischer zwar auf seine vorangegangenen Arbeiten zurückgegriffen, das Ganze aber über weite Strecken doch neu auf die vielfach klinisch weiße, von ausgiebig Blut befleckte Bühne gebracht.

In einer Zeit, in der wir längst wieder gelernt haben, ältere Werke nicht bloß, wie Wagner formulierte, als „antike Curiosität zur bloßen Vergnügung der klassisch gebildeten Musikkenner“ wahrzunehmen, „sondern mit wirklichem, populären, von Jedem gefühlten und bezeugten Erfolge“ neu erleben können, erscheint die halbe Herauslösung von Glucks Werken aus ihrem historisch-stilistischen Kontext, der ja etwa auch unabdingbare Ballettszenen umfasste, beinah schon wieder ungewohnt. Aber auf dem Theater ist ja vieles an Adaption möglich – und tatsächlich erwies sich die angestrebte konzise, folgerichtige Dramaturgie ohne retardierende Momente als tragfähig, abgesehen von kleinen Einwänden, etwa der Platzierung der Pause. In einer szenisch am Heute orientierten Welt werden wir Zeuge des Kampfes, zwischen (barbarischen) religiösen Bräuchen und diese überwindender Aufklärung.

Eindringliche Darsteller

Die erwachsene Iphigénie, Véronique Gens, singt sie mit blühendem Nachdruck, durchlebt ihre Vergangenheit wie einen bösen Traum, trifft dort auf ihr jüngeres Selbst in Gestalt der naiven, im guten Sinne unreifer tönenden Lenneke Ruiten, welcher Agamemnon schließlich die Kehle durchschneidet: Christoph Pohl kehrt als ähnlich getriebener Thoas wieder, und auch Michelle Breedt (Clytemnestre) geistert nach ihrem Tod blutüberströmt weiter durch Fischers körperbetonte Inszenierung, die Quälgeister und gequälte Geister gleichermaßen beherrschen – nicht zuletzt der mit hochdramatischem Aplomb agierende Stéphane Degout als stets fiebernder Oreste. Großen Anteil am Erfolg haben auch der stets wandlungsfähige Arnold-Schoenberg-Chor und besonders die Wiener Symphoniker, die unter Husseins klug befeuernder Leitung Glucks Dramatik ebenso wie seine Kantilenen und überraschenden Klangeffekte auf historisch informierte, packende Weise darbrachten: Intensität ohne die Anmutung eines Kompromisses.

Weitere Termine: 18., 21., 24., 27. und 29.10, 19 Uhr

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.10.2014)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.