Vom beschädigten Leben

David Pountney, der scheidende Intendant der Bregenzer Festspiele, pflegt eine offene Vorstellung von neuem Musiktheater. Die letzte Uraufführung seiner Intendanz unterstreicht das.

Jürg Huber
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Voller Anklänge: HK Grubers «Geschichten aus dem Wienerwald» in Bregenz. (Bild: Karl Forster)

Voller Anklänge: HK Grubers «Geschichten aus dem Wienerwald» in Bregenz. (Bild: Karl Forster)

«Ich bin ein Wiener», bekennt David Pountney mit seinem letzten Festspielprogramm. Zum Abschluss seiner Intendanz präsentiert der «fliegende Engländer», wie er in der zu seinen Ehren erschienenen Festschrift genannt wird, mit «Wien zartbitter» nochmals Österreichisches à discrétion. Im opulenten und reich illustrierten Band lassen Weggefährten und er selbst die vergangenen elf Jahre Revue passieren. Das sind nicht nur die spektakulären Bühnenbilder des Spiels auf dem See; gebührende Würdigung erfahren auch die vielen weiteren Programmschienen, die Pountney ausgebaut oder neu entwickelt hat. Raritäten wie die Auschwitz-Oper «Die Passagierin» von Mieczysłav Weinberg fanden hier ihr Schaufenster zur Welt. Und schliesslich ist Pountney ein Verfechter einer zeitgenössischen Musik ohne Scheuklappen.

Publikumsfreundlich

«Ich bin ein Engländer», hat sich HK Gruber schon früh in seiner Komponistenkarriere gesagt und sich gegen das Etikett des «Berufswieners» gewehrt. Im Kurt-Weill-Spezialisten David Drew hat er beim renommierten Musikverlag Boosey & Hawkes einen unermüdlichen Mentor gefunden, wie in der soeben bei Musikzeit in Wien erschienenen Biografie von Andrea Zschunke nachzulesen ist. Nachzuhören ist es in den «Geschichten aus dem Wiener Wald» nach dem gleichnamigen Volksstück von Ödön von Horváth, die im Bregenzer Festspielhaus ihre Uraufführung erlebten. Dafür schöpft Gruber aus dem reichen Fundus der Musikgeschichte in jener publikumsfreundlichen Art, die vielen angelsächsischen Komponisten eigen ist. Und in vielem gemahnt die Musik an Weill, der nach seiner Zusammenarbeit mit Bert Brecht auch am Broadway Karriere gemacht hat. Dass die Geschichte aus dem Wiener Kleinbürger- und Rotlichtmilieu dennoch nicht zum grossen Wurf einer zeitgenössischen «Dreigroschenoper» wird, hat wohl mit der prominenten Vorlage zu tun. Grubers Librettist Michael Sturminger, der auch die werkdienliche, doch etwas brave Regie verantwortet, behilft sich mit radikalen Kürzungen, indem er ganze Szenen streicht oder verdichtet. Dennoch erweist sich die Textfülle als Grundproblem, führt sie doch zu einem bisweilen etwas langatmigen Parlando-Stil, dem es zwar nicht an rhythmischem und harmonischem Raffinement mangelt, das der Komponist selbst am Pult der Wiener Symphoniker zur Geltung bringt. – Vor allem der erste Teil, der mit dem sehnsüchtigen «Lied von der Wachau» einsetzt, wirkt oft statisch, was den wenigen Ausrufezeichen wie dem Auftritt des schneidigen deutschnationalen Studenten Erich (Michael Laurenz) besondere Schärfe verschafft. Vermeintlich die Fäden in den Händen zu halten scheint die reife Kioskbesitzerin Valerie mit ihrer Vorliebe für junges Blut. Eine Paraderolle für die Mezzosopranistin Angelika Kirchschlager, die Grubers Forderung nach Textverständlichkeit am besten umsetzt und ihren On-off-Liebhaber Alfred (Daniel Schmutzhard) eher blass aussehen lässt. Punktgenau dagegen der Auftritt von Anja Silja, die als kleinbürgerlich böse Grossmutter brilliert.

Haushälterisch

Und das Wienerische? Es kommt auf der Bühne von Renate Martin und Andreas Donhauser mit Ansichten der Donaulandschaft und der städtischen Skyline zum Ausdruck; bigott zeigt es sich in der Beichtszene und dem darauffolgenden Gang ins «Maxim», wo sich die Regie stärkere optische Akzente erlaubt. Gruber selbst verwendet es haushälterisch. Nur selten schnulzt eine Geige, und die Walzerelemente sind oft fragmentiert, so dass sie eher an Ravels «La Valse» gemahnen als an Johann Strauss. Im letzten Bild, in das Gruber mit dramatischem Blech und Schlagwerk einführt, steigert sich die junge belgische Sopranistin Ilse Eerens als Marianne zur Tragödin, wenn in einem Anti-Liebesduett die Lebensentwürfe von ihr und ihrem künftigen Mann diametral auseinanderklaffen. «Meiner Liebe entgehst du nicht», droht Jörg Schneiders bieder-brutaler Oskar, bei dem Falstaff-Figur und gequetschter Tenor eine groteske Verbindung eingehen. Spätestens hier kippt die Wiener Gemütlichkeit ins kosmopolitische Elend ungleicher Geschlechter- und Machtverhältnisse.