La traviata ist eine der populärsten Opern des Repertoires und zugleich die vielleicht am häufigsten überproduzierte: In den siebziger Jahren rückte der vorgebliche Naturalismus eines Zeffirelli oder Schenk weniger den Kampf der todgeweihten Kurtisane Violetta Valéry um ein letztes Glück ins Zentrum der Aufmerksamkeit, sondern die Opulenz und das Luxusleben der Belle Époque. Diese Sicht wirkt in noch heute in den meisten Inszenierungen nach – allerdings nicht bei Peter Konwitschny, dessen Grazer Produktion nun im Theater an der Wien neu einstudiert wurde: Er macht ausgiebige Striche in der Partitur und im Ausstattungsbudget und holt dafür den Menschen Violetta vor den Vorhang.

Wobei dies auch wortwörtlich gilt, denn die Ausstattung besteht lediglich aus einem Stuhl und eben Vorhängen, welche einerseits für die Schichten von Violettas Persönlichkeit stehen, die sich ihr selbst und dem Publikum nach und nach erschließen, andererseits für das Fortschreiten der Zeit: mit der Entscheidung zum Verzicht auf ihren Geliebten schließt sich ein Vorhang und damit gleichzeitig ein ganzer Lebensabschnitt. Im Laufe des Abends wechseln Farben und Beleuchtung dieser Vorhänge von lebhaften Flammenfarben zu aschfahlem Dunkelrot und symbolisieren so letztendlich Violettas Entwicklung. Durch den letzten Vorhang verschwindet sie wie in einem schwarzen Loch, und es ist kein Licht am Ende des Tunnels in Sicht – auch wenn Konwitschny im Programmheft seine Synopsis mit den Worten schließt: „Um das Weitere seinem missratenen und geliebten Geschöpf zu ersparen, nimmt der liebe Gott die Titelfigur zu sich.“

Diese Titelfigur ist in seiner Lesart auch der einzige „wirkliche“ Mensch des Dramas, also ein Wesen mit Gefühlen und Bedürfnissen. Dessen vermeintliche Freunde sind lediglich vergnügungssüchtige Partytiger, und der Tratsch um das dahinsiechende It-Girl und ihren letzten Liebhaber kommt ihnen gerade recht. So ist es nur logisch, dass im Schluss des berühmten Trinkliedes die Bösartigkeit, ja Gefährlichkeit des Mobs durchklingt, und gemeinsam feiert, demütigt und ignoriert man Violetta. Das tut auch Alfredo, der zu spät erwachsen wird, zu spät begreift. Er, der introvertierte Strickjackenträger, hätte der Retter der vom Weg Abgekommenen sein können, aber letztendlich war er nicht besser und schon gar nicht mutiger als die Herren im feinen Zwirn – im Gegenteil: Er hat in Violettas Landhaus auf ihre Kosten gelebt und sie für einen letzten Versuch um geordnete Verhältnisse und ein bisschen Liebe zahlen lassen, und zwar doppelt und dreifach: finanziell, mit ihrer öffentlichen Demütigung, und letztlich mit ihrem verfrühten Tod.

Um diesem hohen Anspruch an das Drama gerecht zu werden, bedarf es natürlich einer hervorragenden Besetzung, und Marlis Petersen, die bereits in der Grazer Produktion brilliert hat, ist eine ideale Violetta. Vokal gelang ihr an diesem Abend (dem letzten der Serie) alles, und in ihrem Ausdruck war sie überzeugend wie sonst kaum eine; als Edelprostituierte war sie nicht (nur) lieb, hübsch und Luxusbiene, sondern verfügte auch über eine gehörige Portion Intelligenz, Mut, Abgebrühtheit. Ihre Leidenschaft und Verzweiflung wurden speziell im Finale des zweiten Aktes schmerzlich greifbar – die „Alfredo“-Rufe gingen einem buchstäblich durch Mark und Bein. Beeindruckend war auch das „Sempre libera“, bei dem sich zur explosiven Lebensfreude auch ein Fragezeichen gesellte: Ein Schwächeanfall samt Sturz vom Stuhl zeigte nicht nur Violettas körperlichen Grenzen auf, sondern auch, dass die vermeintliche Freiheit keine ist. Eine berühmte Kurtisane, jemand, der sich selbst verkauft und als Person öffentlichen Interesses gilt, gehört nicht sich selbst, sondern allen.

Gegen so viel geballte weibliche Energie – verstärkt durch Sian Edwards‘ engagiertes und differenziertes Dirigat am Pult des ORF-Radio Symphonieorchester Wien – zogen die Männer an diesem Abend fast zwangsläufig den Kürzeren. Roberto Frontali gab einen soliden, wenn auch recht lautstark orgelnden Vater Germont, der aber gerade dadurch einen sonst weniger offensichtlichen Grund für Violettas raschen Verzicht auf den Geliebten freilegte: Alfredos Vater war für Violetta auch ein drohender Gott-Vater, der sie an den vermeintlich „rechten“ Weg erinnerte. Da musste das Glück der (anwesenden) Tochter, des „reinen Engels“, nicht lang beschworen werden, um den Widerstand der Todgeweihten zu brechen.

Ebenfalls mit Lautstärke punktete Arturo Chacón-Cruz, jedoch machten sich an jenen Stellen, an denen der Tenor die Melodie über vorwiegend rhythmisch angelegter Orchesterbegleitung tragen muss (ein Hauptkriterium für Verdi-Sänger), mangelnde Substanz und Farbe der Stimme deutlich bemerkbar. Dass er im Lauf dieser Serie auch in München als Alfredo für den erkrankten Joseph Calleja einsprang, ehrt ihn zwar, war aber seinem Instrument kaum zuträglich. Die übrigen Sängerinnen und Sänger (unter anderem in seiner Abschiedsvorstellung: das Junge Ensemble des Theater an der Wien) überzeugten im Rahmen der Möglichkeiten ihrer Rollen. Speziell zu würdigen ist schließlich der Arnold Schoenberg Chor, welcher wieder einmal in jeder Hinsicht eine starke Vorstellung gab und auch zwei Solisten stellte.

Trotz kleinerer gesanglicher Schwächen war dies also ein denkwürdiger, aufwühlender Abend, dessen Fokussierung auf das Wesentliche der traviata wieder mehr Begeisterung für dieses viel gehörte Repertoire-Stück weckte. Das ist einerseits Peter Konwitschnys hochprofessioneller Analyse und Umsetzung des Stoffs zu danken, andererseits Marlis Petersens spektakulärer Darstellung.

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