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Bühne und Konzert Dicke Sängerin

Nun gut, das letzte Kostüm, das kneift dann doch

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Überreichung der silbernen Rose im „Rosenkavalier“: Tara Erraught als Octavian (l.) bandelt mit Teodora Gheorghius Sophie von Faninal an Überreichung der silbernen Rose im „Rosenkavalier“: Tara Erraught als Octavian (l.) bandelt mit Teodora Gheorghius Sophie von Faninal an
Überreichung der silbernen Rose im „Rosenkavalier“: Tara Erraught als Octavian (l.) bandelt mit Teodora Gheorghius Sophie von Faninal an
Quelle: Bill Cooper
Am Ende wird’s eng. Sonst ist die von Kritikern für ihre Figur verlachte Tara Erraught beim Glyndebourne Festival ein prima Rosenkavalier. Von der Aufführung bekommt man trotzdem einen Zuckerschock.

Oper, das ist immer Ohren- und Augenschein, manchmal sogar -schmaus. Und darüber gilt es auch in den Medien kritisch zu urteilen. Aber „in dem Wie, da liegt der ganze Unterschied“. Das sollte nicht nur die „Rosenkavalier“-Marschallin wissen, die lebensklug – wenn auch nicht ganz ohne heimliche Träne – ihren jungen Liebhaber Octavian weiterempfiehlt an die gleichaltrige Sophie.

Auch ein Kritiker müsste das bedenken, wenn er die Computertasten als mögliche Fallbeile niederdrückt. Denn offenbar nicht nur die Anonymität des Internets hat die diskursive Aggressionskurve gewaltig anschwellen lassen. Anders jedenfalls ist es nicht verständlich, dass sich kürzlich bei ihren Besprechungen der Premiere eben dieser Strauss-Oper beim Festival in Glyndebourne immerhin vier durchaus geschätzte britische Kollegen hinreißen ließen, wie böse Krähen auf der körperlichen Erscheinung der jungen irischen Mezzosopranistin Tara Erraught als Octavian herumzuhacken.

Titelrollen an den allerersten Musiktheatern

Gut, die 28-Jährige wird es trotz ihres hübschen Gesichts und einer sofort die Bühne beherrschenden Ausstrahlung nie in die Endrunde von „Germany’s Next Topmodel“ schaffen, aber dafür haben bereits viele Castingchefs ihr Foto bekommen und in der Kartei behalten: Schließlich hat sie schon wichtige Premieren in der Titelrolle an allerersten Musiktheatern hinter sich.

In München, wo sie der sonst sehr auf Optik versessene Intendant Nikolaus Bachler sofort für das Ensemble der Bayerischen Staatsoper gesichert hat, war Tara Erraught bisher (als bejubelte Einspringerin) Romeo in Bellinis „I Capuletti e i Montecchi“, der Junge in Ravels „Das Kind und die Zauberdinge“, Küchenjunge in Dvoráks „Rusalka“ und Sesto in Mozarts „La Clemenza di Tito“.

Auch als Hänsel trägt sie dort Hosen, und keiner hat sich über ihre Figur aufgeregt. Auch nicht in Wien, wo sie immerhin das Recht der ersten Premierennacht als Rossinis „Cenerentola“ (im Kleid) hatte.

Auf der Bühne zählt nur Leistung

Man kann darüber diskutieren, ob eine so junge Sängerin schon reif ist für derart bedeutende Partien an wichtigen Häusern. Sicher hilft ihr, dass sie mit Jack Mastroianni einen der ältesten Füchse im Musikgeschäft zum Agenten hat. Doch auf Dauer zählt auf der Bühne die Leistung. Und die bringt sie.

Allenfalls könnte man anmerken, dass es ihrem schönen, schimmernden Timbre (noch) an Individualität und Dringlichkeit fehlt. Doch sie ist eine großartig-intuitive Schauspielerin. Die Stimme sitzt, ist technisch rund und trägt gut. Den Rest wird die Zukunft weisen.

So gerät sie auch zu einer Zierde dieses neuen, auf seine Weise sehr britpoppigen „Rosenkavaliers“, der weltweit Schlagzeilen machte nicht so sehr wegen seiner schrillen Kulissen als wegen des grellen Internet- und Blog-Geschreis, das sich über das vermeintlich frauenfeindliche männlicher Kritiker-Kleeblatt ergoss. Tara Erraught dürfte gegenwärtig wegen ihrer angeblichen Rundungen bekannter sein, als sie es mit ihrem Singen je geworden wäre. Recht ist ihr das sicher nicht.

Blütensatte Sussex-Gärten

Die unhöflichen Journalisten wurden anschließend noch viel rüder niedergemacht. Da wurde nach Entlassung gerufen. Nur das Wort „Lynchjustiz“ fehlt noch. Einige der Kritiker haben sich inzwischen entschuldigt. Viele haben die Künstlerin (auch unbesehen und ungehört) verteidigt. Kolleginnen ergriffen Partei, Intendanten machten sich wichtig. In Glyndebourne wurde an Nicky Gillibrands Kostümen und an der Perücke gebastelt. Tara Erraugh hingegen verweigerte klugerweise jeden Kommentar und konzentrierte sich auf ihre Auftritte.

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Recht so, den in der fünften ihrer insgesamt 13 Vorstellungen herrscht längst wieder allerschönste Glyndebourne-Routine. Und man möchte eigentlich nur die egalitäre Smoking-Gelassenheit, den wohligen Champagner- und Erdbeerfrieden auf den Picknickdecken in den blütensatten Sussex-Gärten preisen, eben dieses sehr besondere, ein wenig snobby, aber auch ehrliche Ambiente feiern, dass seit nunmehr 80 Jahren zu diesem einzigartigen Opernfestival gehört.

Sechs Kostüme trägt dieser umstrittene Octavian. Vier als Mann und zwei als angebliche Zofe Mariandl. So nämlich will ihn die Marschallin an ihrem ins Schlafzimmer hereinplatzenden Vetter Ochs vorbeischmuggeln. Der sexuell aufgeweckte Junge bekommt aber am Identitätsspiel Spaß und führt den derben Bräutigam vom Land als angebliche Affäre im Beisl weiter an der Nase herum. So kann Tara Erraugh ihre weibliche Figur bestens zur Geltung bringen. Und vergisst doch nie, dass sie eine Jungen spielt, der sich als Fräulein ausgibt; was selbst im Uraufführungsjahr 1911 noch als uralter Theatertopos nicht nur für Strauss und sein erotisch-androgynes Flirren ausmachte.

Triumph der Geschmacklosigkeit

Der gerne sarkastische Regisseur Richard Jones kitzelt in seiner knallig-flachen „Rosenkavalier“-Inszenierung das Gemachte, das kalkulierte Spiel mit Sentiment und Sentimentalität heraus. Hier ist Liebe meist nur ein Gefühl von gestern oder ein so neues, dass man gar nicht weiß, ob es überhaupt anhält: „Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein“, singen die beiden Jungen am Ende im sich nicht nur melodisch-metaphorisch verschlingenden Duett.

Paul Steinbergs drei Bühnenbilder übertrumpfen sich in gewollter Geschmacklosigkeit, alles scheint hier vor dem Hintergrund der jugendstilig unterfütterten Entstehungszeit eine Art Rokoko-Karneval aufzuführen. Im flach gehaltenen Boudoir der Marschallin drängelt sich nicht nur das gewöhnliche Bittsteller-Bagagi, die Dame des Hauses präsentiert sich, eingerahmt vom eigenen Foto und dem des Gatten, ihrem Liebhaber im Bademantel nackt unter einem Goldregenduschschauer – wie später die strausssche Danae.

Diese Fürstin Werdenberg der ganz besonders schlanken, aber stimmlich etwas dürren, in den Höhen gar dünnen Kate Royal in ihren präpostmodernen Schäferinnenroben scheint eine gehörige Portion klinischen Narzissmus aufzuweisen. Ihr Liebhaber wird als testosteronsprühendes Boytoy behandelt, ihr ganzes Dasein ist Pose, selbst wenn sie sich zu ihrem dann doch wieder ehrlich berührenden Monolog auf die Couch legt, hinter der Professor Sigmund Freud persönlich Platz genommen hat.

Eine Epoche wird seziert

Stets trennen und entfernen voluminöse Möbel die Spieler voneinander: ein gestrecktes Riesensofa; dann ein Konferenztisch im Hause Faninal, an dem kühl über Sophies Mitgift und körperliche Vorzüge verhandelt wird; ein ausfahrbares Monsterbett im von roboterhaften Lemuren bevölkerten Beisl. Am Anfang und Ende herrschen harte, kontrastive Tapetenmuster vor, im zweiten Akt schwerer, neureicher Travertin und topmodische Mies-van-der-Rohe-Sessel samt der Hausbesitzerinschrift unübersehbar an der Rückwand. Hier wird deutlich eine Epoche seziert und ausgestellt, ein Kunstwerk analytisch auf seine heutige Befindlichkeit abgeklopft.

Deshalb ist auch die Sophie der höhensicheren, aber ebenfalls sopranüberzarten Teodora Gheorghiu ohne Verlobungsstaffage nur ein verhuschtes Mädchen; dafür geriert sich der jugendpralle, ungewöhnlich dominante, dabei parlandosatte Ochs des Lars Woldt als eigentlicher Spielmacher, auch wenn ihm vom Gang der Ereignisse die Fäden aus der Hand geschlagen werden. Zudem bekommt er völlig respektlos statt Oktavians Degen die vorher in einem Schneewittchensarg ruhende silberne Rose in den Allerwertesten gepikst.

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Wunderbar die auch körperlich ruckelnden, zuckenden Annäherungen der beiden „jungen Leut“, und Tara Erraugh ist hier genau richtig besetzt – als hormongestauter Cherub und k.-u.-k-Kadetten-Putto neben seiner fast schon anorektisch überkontrollierten Bald-Ex-Geliebten. Die Lockenperücke scheint inzwischen im Volumen reduziert, nur der letzte Frack spannt überdeutlich.

Dem Mohr die Nerzstola

Ein sachlicher „Rosenkavalier“ für das 21. Jahrhundert. So dirigiert ihn auch Glyndebournes neuer Musikdirektor Robin Ticciati, hier längst kein Unbekannter mehr, am Pult des glänzenden London Philharmonic Orchestra. Der lässt Schmelz und Harmonie zu, setzt auf Flottheit und Akkuratesse. Hier wird nichts unters schnörklig-aufgepuffte Rokokofederbett gekehrt. Dass die sicherlich schnell Trost findende Marschallin noch andere amouröse Eisen im Feuer hat, wird schon überdeutlich, wenn der leicht rassistisch aufgefasste dienende „Mohrenknabe“ Mohammed seiner Herrin schöne Augen macht – und der am guten Ende statt des Taschentuchs der Sophie, sich in diese schmiegend, der Marschallin Nerzstola aufspürt.

Das hätte sicher auch dem eben zu „Rosenkavalier“-Klängen eine Woche vor dieser Jubiläumseröffnungspremiere verstorbenen George Christie gefallen. Der hatte 1962 von seinem Vater John Herren- und Opernhaus geerbt und Letzteres vor 20 Jahren glorios (und wie auch das Festival ohne einen Penny Subvention) neu errichtet. Zum 150. Strauss-Geburtstag präsentiert sich das seit 2000 von Georges Sohn Gus geleitete Glyndebourne mit dieser starken Produktion absolut musiktheaterrelevant. Und das wirkt langfristig weit schwerer als eine angeblich zu dicke Sängerin.

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