Im Zwischenreich der Existenz

Der erste Beitrag zum neu aufgestellten Musiksektor der Wiener Festwochen galt Glucks «Orfeo». Die Produktion wird zu einer existenziellen Erfahrung.

Peter Hagmann
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Eine Patientin im Wachkoma, per Video auf die Bühne geholt. (Bild: Luca Del Pia / PD)

Eine Patientin im Wachkoma, per Video auf die Bühne geholt. (Bild: Luca Del Pia / PD)

Edle Einfalt und stille Grösse – das war und ist das Grundproblem der Musik Glucks. Wenigstens so, wie wir sie bis heute erlebt haben. Der in Österreich und Frankreich, Deutschland und Italien, Böhmen und Dänemark wirksame, der unermüdlich reisende und virtuos sein Netzwerk pflegende Komponist, dessen dreihundertster Geburtstag naht – Christoph Willibald Gluck wollte eine neue Einfachheit. Wollte Schluss machen mit den erstarrten Konventionen der Opera seria und der formalen Pracht der Tragédie lyrique; die lapidare, direkt verständliche musikalische Formung und die unmittelbare, authentische Gemütsbewegung sollten die überkommenen Traditionen ersetzen. Das war die Opernreform, für die Gluck im späteren 18. Jahrhundert berühmt wurde – die heute aber nur mehr etwas fürs Schulbuch ist. Sängerinnen, Instrumentalisten und Dirigenten des 20. Jahrhunderts wussten mit dieser Musik nicht umzugehen; wenn sie erklang, wurde einem alsbald fad.

Kunst und Leben

Inzwischen freilich hat sich etwas getan in Sachen Gluck: dank der, wie es heute präziser heisst, historisch informierten Aufführungspraxis. Bei der Premiere von «Orfeo ed Euridice» in der italienischen Originalfassung von 1762, mit der die erneuerten, nun von Markus Hinterhäuser geleiteten Wiener Festwochen ihre eigentliche Eröffnung fanden, war es deutlich zu hören. Ins Wiener Museumsquartier gerufen war das Barockorchester B'Rock aus Gent, das noch nicht zu den ersten Formationen seiner Art zählt, aber gewaltig am Aufholen ist. Gemeinsam mit dem französischen Dirigenten Jérémie Rhorer, der sich, wie es bei manchen Interpreten jüngerer Generation der Fall ist, in alter wie in neuer Musik gleichermassen auskennt, haben die Instrumentalisten aus Belgien die Staubschicht auf der Musik von Glucks Orpheus-Oper entschieden weggeblasen; das Stück war hier vollkommen neu zu erleben. Keine Spur von hohlem Pathos, von aufgesetztem Espressivo, von langatmigen Terzenketten. Stattdessen pulsierende Klangrede, vielfach abgestufte Artikulation, buntes Farbenspiel der alten, obertonreichen Instrumente – und eine ungemeine Vitalität des musikalischen Verlaufs. Das ging echt zu Herzen.

Indessen, und darin lag die Besonderheit dieser gemeinsam mit der Brüsseler Monnaie-Oper erstellten Produktion, war die Eindrücklichkeit dieses Opernabends nicht allein seiner musikalischen Seite geschuldet, sondern vielmehr der ganz aussergewöhnlichen Verbindung zwischen dem Musikalischen und dem Szenischen. Bei der Begegnung mit Glucks Musik und beim Nachdenken über den Mythos von Orpheus, dem Sänger, der seine einem Schlangenbiss zum Opfer gefallene Gattin Eurydike aus dem Totenreich ins Leben zurückzuholen sucht, hat sich dem italienischen Bühnenkünstler Romeo Castellucci sogleich das Bild vom Krankenlager einer im Koma liegenden jungen Frau aufgedrängt. Es hat ihn nicht mehr losgelassen – und hier zu einer szenischen Verwirklichung von denkbar berührender Kraft gefunden. Karin Anna Giselbrecht, 25 Jahre alt, eine strahlende Erscheinung voller Lebensfreude und Perspektiven, begabte Tänzerin und ausgebildete Slawistin, seit Mitte Februar 2011 nach einem Herzstillstand im Wach-Koma liegend – Karin Anna Giselbrecht ist Eurydike. Möge sie es sein, denkt man am Ende.

Die Bühne besteht aus nichts als einer grossen Leinwand, auf der sich eine unendlich liebevolle, unendlich zärtliche Annäherung an diesen jungen Menschen im Zwischenreich zwischen Sein und Nichtsein ereignet. Keinen Augenblick lang kommt der Eindruck voyeuristischer Zudringlichkeit auf; und in keinem Moment stellt sich die Frage, ob das noch Theater sei, ob hier nicht in einer ästhetisch, wenn nicht ethisch fragwürdigen Weise Wirklichkeit auf eine Bühne geholt werde. Mithilfe einer technisch überaus anspruchsvollen Einrichtung macht sich der Zuschauer über Video auf eine Reise zu der in einer Wiener Spezialklinik betreuten Patientin. Die Fahrt mit dem Kameramann Vincent Pinckaers geht durch Alleen hin zu einem mächtigen Gebäude, einem Gitter entlang hin zu einer Tür, durch unendliche Gänge hin zu dem Bett von Karin Anna Giselbrecht, die ihrerseits über Kopfhörer an der Aufführung im Museumsquartier teilnimmt. Auch wenn sich Nähe und Intimität einstellen, bleibt doch alles im Unscharfen, also bloss angedeutet – bis auf zwei, drei absolut erschreckende Momente, da die Klinik, ihre Eingangstür und schliesslich die Augen der Patientin in aller Schärfe sichtbar werden. Über die Augen, mit denen sie spricht, mit denen sie weint, mit denen sie lächelt, hat sie ihre Mitwirkung an dem Projekt zugesagt.

Was das ist: das Tor zum Geisterreich der Unterwelt, was das sind: Furien – in der aufwühlenden Grenzerfahrung dieses, soll man noch sagen: Opernabends kam es einem nah. Es war zu sehen – und dergestalt zu sehen, dass die Gesichter der Mitmenschen beim Hinausgehen ganz anders erschienen. Und es war zu hören, denn was der Countertenor Bejun Mehta als der verzweifelte, mutige und erneut verzweifelnde Orfeo an diesem Abend an emotionaler Identifikation und, ungeschmälert, vokaler Kunst erfahren lässt, ist schlicht einmalig. Über Mikrofon singt dieser Orpheus hinüber zu seiner in einem uns Gesunden unbekannten, unerreichbaren Bewusstseinszustand liegenden Eurydike. Und er tut es so herzerweichend schön, dass jedes Wort vergeblich wäre. Mit ihrer nicht weniger hochentwickelten Kunst leiht die Sopranistin Christiane Karg der stummen Eurydike in der Klinik ihre Stimme. Und Amor, der dem Sänger die Erwägungen der Götter übermittelt, ist hier tatsächlich ein Bub: der Wiener Sängerknabe Laurenz Sartena, der seine Sache tadellos macht. Wenn er nach einem totalen Blackout mit einem Leuchtstab in der Hand Orfeo das glückliche Ende ankündigt, erscheint im Hintergrund ein Bild aus Arkadien. Eine stimmigere Metapher lässt sich schwer denken.

Vermehrt Musik

Zum Fühlen und zugleich zum Denken sollen die Wiener Festwochen sein – der Abend mit «Orfeo ed Euridice» und Christoph Willibald Gluck hat es in aller Klarheit ausgelegt. So ist es eben bei Markus Hinterhäuser, der jetzt, als Nachfolger von Luc Bondy, für drei Jahre als Intendant der Festwochen wirkt. Seine Aufgabe wird unter anderem darin bestehen, den darniederliegenden Musiksektor der Wiener Festwochen mit neuem Leben zu erfüllen. So folgt auf den starken Beginn die 2011 in Schwetzingen uraufgeführte Oper «Bluthaus» von Georg Friedrich Haas in einer neuen Version, und dies mit dem Regisseur Peter Mussbach, der hier ein Comeback feiert. Aus Madrid wird Mozarts «Così fan tutte» übernommen, die von dem verstorbenen Gerard Mortier in die Wege geleitete Inszenierung von Michael Haneke. Und zum Schluss gibt es, nach einem Wochenende für die russische Komponistin Galina Ustwolskaja, Schuberts «Winterreise» mit dem südafrikanischen Künstler William Kentridge. Das sind Festspiele.