Psychotherapie in drei Bildern

Der Regisseur Jan Schmidt-Garre zeigt Erich Wolfgang Korngolds Oper «De tote Stadt» im Licht von Freuds Psychoanalyse. Korngolds deutende Musik passt ganz gut dazu.

Thomas Schacher
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Phänomenale Hauptdarsteller: Stefan Vinke (Paul) und Molly Fillmore (Marietta). (Bild: Hans Jörg Michel / Theater St.Gallen)

Phänomenale Hauptdarsteller: Stefan Vinke (Paul) und Molly Fillmore (Marietta). (Bild: Hans Jörg Michel / Theater St.Gallen)

«Triumph des Lebens» sollte die Oper nach dem Willen ihres Schöpfers ursprünglich heissen. Dass daraus «Die tote Stadt» geworden ist, überrascht auf den ersten Blick. Tod statt Leben? Tot ist zunächst die Stadt Brügge, wo sich die Handlung ereignet. Damit spielt das Libretto auf die Wehmut wegen der verlorenen Bedeutung der Stadt an, die bis zum 15. Jahrhundert eine wichtige Handelsmetropole war. Tot ist aber auch die Wohnung, wo sich Paul, der Protagonist des Stücks, verschanzt hat. Alle Fenster sind verschlossen, so dass kein Lichtstrahl das Interieur erhellt. Und tot im buchstäblichen Sinne ist Pauls Ehefrau Marie. Ihr hat der Zurückgebliebene einen (während des ganzen Stücks unsichtbaren) Altar errichtet, wo er das Bildnis und einen Haarzopf der Verstorbenen verehrt.

Es ist dem Theater St. Gallen hoch anzurechnen, eine Neuproduktion von Erich Wolfgang Korngolds immer noch unterschätzter Oper «Die tote Stadt» zu wagen. Die Komposition, deren Libretto Korngolds Vater nach Georges Rodenbachs Roman «Bruges-la-morte» verfasst hatte, entstand 1920 in Wien. Sie reflektiert den Zeitgeist nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, der einerseits von der Trauer über den Untergang der Donaumonarchie, andererseits vom Wunsch nach einem Neubeginn geprägt war.

Isolierte Scheinwelt

Das Team mit dem Regisseur Jan Schmidt-Garre, dem Bühnenbildner Vincent Lemaire und dem Kostümbildner Thomas Kaiser lässt die Oper in der Entstehungszeit spielen. Und es nimmt die These auf, dass sich Korngold von Sigmund Freuds psychoanalytischen Schriften, insbesondere seiner «Traumdeutung», hat beeinflussen lassen. Paul, der nach dem Tod seiner Frau in einer isolierten Scheinwelt lebt, begegnet der Tänzerin Marietta, die der Verstorbenen zum Verwechseln ähnlich sieht.

Geleitet vom Wahn, durch eine Affäre mit Marietta die Verbindung mit seiner verstorbenen Marie weiterzuführen, gibt er sich der Tänzerin hin, wenn auch mit Schuldgefühlen. Im Traum, auf einer Couch liegend und von seinem Freund Frank beobachtet, der als Psychiater dargestellt wird, erlebt Paul, wie Marietta seinen Totenkult lächerlich macht, worauf er sie mit dem Haarzopf erwürgt. Wach geworden, erkennt Paul die Krankheit seines bisherigen Lebens und wird damit frei für die reale Marietta. So sieht es jedenfalls Jan Schmitt-Garre, der sich damit von pessimistischeren Deutungen des Schlusses absetzt.

Neugierde eines Seelenarztes

Dass die St. Galler Produktion mehr ist als nur angewandte Psychoanalyse, liegt nicht zuletzt am phänomenalen Hauptdarstellerpaar. Stefan Vinke, ausgestattet mit einem Wagnerschen Heldentenor, übersteht die selbstmörderische Gesangspartie ohne Schaden und verkörpert die Zerrissenheit zwischen Vergangenheit und Gegenwart sehr glaubwürdig. Die Sopranistin Molly Fillmore, die auch Salome in ihrem Repertoire führt, erscheint hier jedoch nicht als Femme fatale, auch nicht als leichtlebiges Flittchen. Der Regisseur macht aus ihr eine ganz normale Frau, was zwar auf Kosten des Spektakulären geht, was aber Pauls Genesungsprozess eine sehr solide Basis gibt. David Maze verkörpert Pauls Freund Frank mit einem wohlklingenden Bariton und der Neugierde eines Seelenarztes. Und die Altistin Susanne Gritschneder mimt eine Haushälterin, die nicht nur in ihrer Kleidung ganz auf Vergangenheit eingestellt ist.

Eine zusätzliche Dimension erhält «Die tote Stadt» durch Korngolds Musik. Im Unterschied zu den avantgardistischen Strömungen der damaligen Neuen Wiener Schule mit ihrem Haupt Schönberg pflegt der Komponist in dieser Oper einen spätromantischen Stil, der durch seinen Lehrer Alexander von Zemlinsky, Richard Wagners Chromatik und Leitmotivtechnik sowie Richard Strauss' Orchestrierungskunst und Klangzauber geprägt ist. Die geglückte Realisierung der Instrumental- schicht durch das Sinfonieorchester St. Gallen unter der Leitung seines Chefdirigenten Otto Tausk verdeutlicht darüber hinaus, wie raffiniert diese Musik die psychischen Vorgänge verdeutlicht beziehungsweise erst ins Bewusstsein bringt. Psychoanalyse in Tönen gewissermassen.