Die Faszination des Bösen

Bern eröffnet die Opernsaison mit Carl Maria von Webers «Freyschütz» in einer neuen Fassung. Der Dirigent Mario Venzago hat die Dialoge durch die seinerzeit von Hector Berlioz für Paris komponierten Rezitative ersetzt.

Thomas Schacher
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Carl Maria von Webers «Freyschütz» in Bern: Dass das Berner Symphonieorchester und sein Chefdirigent bestens aufeinander abgestimmt sind, ist an der Premiere deutlich zu erleben. (Bild: Anne Boutellier)

Carl Maria von Webers «Freyschütz» in Bern: Dass das Berner Symphonieorchester und sein Chefdirigent bestens aufeinander abgestimmt sind, ist an der Premiere deutlich zu erleben. (Bild: Anne Boutellier)

Man wagt etwas in Bern. Seit der Fusionierung von Stadttheater und Berner Symphonieorchester zur Stiftung Musik Theater Bern weht an der Aareschlaufe ein frischer Wind. Nachdem zur Eröffnung der vergangenen Saison Beethovens «Fidelio» in der leicht modifizierten Urfassung auf dem Programm gestanden hatte, wurde die Spielzeit 2013/14 mit der sogenannten Berner Fassung von Carl Maria von Webers Oper «Der Freyschütz» eröffnet. Hinter beiden Ereignissen steht als Bearbeiter und Promotor Mario Venzago, der Chefdirigent des Berner Symphonieorchesters.

Rezitative von Berlioz

Im Kern wird in Bern jene Fassung des «Freyschütz» gespielt, die im Jahr 1841 an der Pariser Opéra über die Bühne ging. Weil dort keine Opern mit gesprochenen Dialogen aufgeführt werden durften – dafür war die Opéra comique zuständig –, mussten die Dialoge vertont werden. Und es war kein Geringerer als Hector Berlioz, der dies unternahm, weil er ein glühender Verehrer Webers war. Mario Venzago hat den französischen Text von Berlioz' Zwischenstücken wieder ins Deutsche rückübersetzt, hat sie etwas gekürzt und die Schnittstellen an Webers Musik angepasst. Zudem erklingt in Bern auch das Ballett, das Berlioz im dritten Akt, in Anlehnung an Webers «Aufforderung zum Tanz», eingefügt hat.

Der Vorteil der gesungenen Rezitative liegt darin, dass die Sänger nicht deutsch sprechen müssen, was insbesondere für die Fremdsprachigen unter ihnen ins Gewicht fällt. Es entsteht auch kein Bruch zwischen Gesprochenem und Gesungenem. Die Beiträge von Berlioz fügen sich teilweise recht gut zu Webers Musik, nehmen sogar gelegentlich deren musikalisches Material auf. Teilweise fallen sie aber stilistisch spürbar aus dem Rahmen, beispielsweise im dritten Akt, wo Agathe der Gespielin Ännchen ihren bedrohlichen Traum erzählt.

Phantasien des Regisseurs

Sehr problematisch ist Venzagos Einfügung einer Szene gleich nach der Ouvertüre, in welcher der Eremit Agathe vor drohendem Unheil warnt und ihr eine weisse Rose überreicht. Dieser Text findet sich zwar im Libretto-Entwurf von Johann Friedrich Kind, aber Weber hat ihn nicht vertont. Hier sprang Venzago gleich selbst in die Lücke, indem er die Musik unter Zuhilfenahme des Andante aus Webers erster Sinfonie und des Kyrie aus Bachs Messe in h-Moll selber komponierte. Dieser Eingriff ist nicht nur stilistisch abzulehnen, sondern verhindert auch, dass die Oper mit der turbulenten Szene des Preisschiessens eröffnet wird.

 (Bild: Annette Boutellier)

(Bild: Annette Boutellier)

Auch der Regisseur wagt etwas in dieser Berner Inszenierung. Michael Simon, der in den letzten Jahren unter anderem durch Inszenierungen zeitgenössischer Musiktheaterstücke hervorgetreten ist, zeichnet für Regie und Bühne gleichzeitig verantwortlich. Seine Lesart verkehrt die Botschaft des Librettos gewissermassen ins Gegenteil: Ihn interessiert nicht der Sieg der Unschuld und des Guten über das Böse, er verwirklicht vielmehr seine Phantasien in der Ausgestaltung des Dämonischen. Agathe erscheint als wenig attraktive Krankenschwester in weissen Kleidern, ihr Verlobter Max sieht aus wie ein Unglücklicher, dem nicht nur der Schuss mit der Flinte nicht gelingt. Die faszinierendste Figur ist der böse Kaspar. Wenn er am Schluss durch Max' Freikugel tödlich getroffen wird, beugt sich Agathe in grosser Anteilnahme über ihn, wie über einen Geliebten. Die Welt des versteckt Erotischen und Triebhaften findet sich bei Kaspar, den Jägern und, überraschend, auch bei Ännchen. Die aufreizend roten Farben der Bühne mit den überall präsenten Tierfratzen und Zielscheiben, aber auch die bunten Gewänder des «bösen» Personals, die Žana Bošnjak entworfen hat, unterstreichen dies deutlich.

Der Kaspar von Pavel Shmulevich überragt die anderen Protagonisten auch musikalisch. Substanz in der Tiefe und blitzschnelle Verwandlung des Ausdrucks setzt er besonders in der Wolfs- schluchtszene raffiniert ein. Die Agathe von Bettina Jensen macht mit ihrer traumhaften Stimme wett, was ihr die Regie versagt. Ihre Cavatina im dritten Akt ist ein Höhepunkt der Aufführung. Der Max von Tomasz Zagorski verfügt über einen wohlklingenden Tenor, aber über wenig Charisma. Verführerisch spielt und singt Yun-Jeong Lee als Ännchen. Aufgewertet ist die Rolle des Eremiten von Dietmar Renner, der überraschend in der Doppelfunktion als Geistlicher und als Schwarzer Jäger Samiel erscheint.

Aussagekräftiges Orchester

Dass das Berner Symphonieorchester und sein Chefdirigent bestens aufeinander abgestimmt sind, ist an der Premiere deutlich zu erleben. Venzago dirigiert mit sprühender Energie und hält das Orchester zu aussagekräftigem Spiel an. Er findet die richtige Mischung zwischen Verweilen und Drängen, arbeitet die Details klar heraus, ohne zu übertreiben. Und die romantischen Farben der Partitur mit ihren charakteristischen Horn- und Klarinettenklängen sind bei ihm bestens aufgehoben. Auch der von Zsolt Czetner einstudierte Theaterchor leistet vorbildliche Arbeit.