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Bühne und Konzert Opernauftakt in Wien

Mädchen, die fallen, und Mädchen, die schießen

Freier Feuilletonmitarbeiter
Diesen Wahnsinn hat ihr der Komponist Iain Bell auf die Stimmbänder geschrieben: Diana Damrau als Moll Hackabout in „A Harlot's Progress“ am Theater an der Wien Diesen Wahnsinn hat ihr der Komponist Iain Bell auf die Stimmbänder geschrieben: Diana Damrau als Moll Hackabout in „A Harlot's Progress“ am Theater an der Wien
Diesen Wahnsinn hat ihr der Komponist Iain Bell auf die Stimmbänder geschrieben: Diana Damrau als Moll Hackabout in „A Harlot's Progress“ am Theater an der Wien
Quelle: dpa
Zwei Operndiven stehen im Mittelpunkt des Saisonstarts an der Wien: Nina Stemme glänzt in Puccinis „La Fanciulla del West“. Diana Damrau meistert einen halbstündigen Parforceritt in den Wahnsinn.

Komponist trifft Primadonna. Primadonna mag Komponist und andersherum ebenso. Komponist kreiert diverse Liedzyklen für die Primadonna. Die interessieren zwar noch keine Plattenfirmen, haben aber gute Klickzahlen auf YouTube. Komponist möchte der Primadonna eine Oper in die geläufige Gurgel schreiben. Findet nach langer Suche ein lohnendes Thema und, noch besser, einen metierkundigen Librettisten. Er bietet das Paket dem Theater an der Wien an – und das greift sofort zu.

Genau so ist es dem 33-jährigen, noch nicht sonderlich bekannten englischen Tonsetzer Iain Bell gegangen, der bis vor Kurzem sein Geld als Fitnesstrainer verdient hat, als er für Diana Damrau eine dramatische Glanznummer fabrizieren wollte. Und die deutsche Sopranistin aus Günzburg war sofort dabei.

Sie feiert längst an der Met und in Mailand, in Salzburg und München einen Premierenerfolg nach dem anderen, wirkt sehr bodenständig, gibt sich auf der Bühne aber gern und schnell dem Rausch nicht nur der hohen Töne, sondern auch der Verwandlung in eine andere Existenz hin. Schließlich kannten sich die beiden seit neun Jahren. Sie wurde seine Muse, er sozusagen ihr zweites Paar Ohren, passt bei allen Plattenaufnahmen auf.

Hogarth inspirierte schon Igor Strawinsky

Fündig wurde Bell in der Stoffwahl bei William Hogarth. Der bedeutendste englische Kupferstecher und Illustrator des 18. Jahrhunderts lieferte bereits mit seiner moralschweren Bilderfolge „A Rake’s Progress“ die Vorlage für eine der erfolgreichsten Opern des 20. Jahrhunderts: Igor Strawinskys „Der Abstieg eines Wüstlings“.

Den Beginn von Hogarths Karriere markiert freilich „A Harlot’s Progress“, der „Abstieg einer Hure“, ein weiterer Bilderzyklus, der gefährdete junge Damen von einem ähnlichen Schicksal abhalten sollte, wie es im „Progress“ einer gewissen Moll Hackabout widerfährt. Auf den Abbildungen von 1732 sieht man die Ankunft eines unbescholtenen Mädchens vom Land in London, das erst die Geliebte eines reichen Alten und dann eine Prostituierte wird. Sie erkrankt an der Syphilis, stirbt umnachtet im Gefängnis und ist schließlich im Sarg zu sehen, während ihr materielles Erbe gefleddert wird.

Im Gegensatz zu vielen ihrer Stimmfachkolleginnen hat Diana Damrau keine Angst vor schrägen Tönen. 2002 brillierte sie in Cerhas „Der Riese vom Steinfeld“ an der Wiener Staatsoper. Lorin Maazel wollte sie in seiner düsteren „1884“-Vertonung für die Londoner Covent Garden Opera dabeihaben: Da turnte sie als Gymnastiklehrerin zu ihren eigenen sportiven Koloraturen und zeichnete in einer weiteren Rolle das beklemmende Porträt einer alten, betrunkenen Frau.

Hier dauert der Wahnsinn länger als 30 Minuten

Und jetzt hat sie – das dürfte ein Opernrekord sein – sogar eine 31-minütige Wahnsinnsszene, die sie bis zum dreigestrichenen Es treibt. Und vorher schon darf sie bei vollstem Körpereinsatz (diverser Beischlaf, Vergewaltigungen, eine Geburt) kosen und treten, schluchzen, jaulen, gurren, trillern, dass man glauben muss, selbst Alban Bergs „Lulu“ wäre für sie nur ein vokaler Sonntagsspaziergang.

Es ist wirklich eine Primadonnenoper geworden, die staunen macht. Bell und sein Librettist Peter Ackroyd, der als Experte für das London des 18. Jahrhunderts keine verbale Ferkelei auslässt, erzählen ihre zweistündige Rinnsteinschwalben-Ballade sehr gerade, äußerst direkt, aber auch sehr altmodisch. Das grummelt als düstere Moll-Moritat los und geht im Geschwindmarsch in die Gosse.

Viel Zeit für Charakterentfaltung bleibt da nicht. Und auch die anderen, hier großartig besetzten Rollen – Marie McLaughlin als Kupplerin, Tara Erraught als falsche Freundin, Nathan Gunn als viriler Verführer und Christopher Gillett als alter Verderber – werden nie sonderlich plastisch.

Retroromantik mit atonaler Glasur

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Iain Bell zeigt viel modernistisches, gut beherrschtes Handwerk, aber wenig eigensinnige Klangsprache: Wir hören meist aufgeraute Retroromantik mit atonaler Glasur; die wird freilich von Mikko Franck am Pult der Wiener Symphoniker ordentlich laut und schön schneidend durcheinandergewirbelt. Auch die Regie Jens-Daniel Herzogs bleibt schmiegsam bebilderndes Vollzugsorgan.

Aus dem Ouvertürennebel erhebt sich in einem die Szene beherrschenden Bretterverschlag der vorzügliche Arnold-Schoenberg-Chor als Personifizierung des vielstimmigen Metropolenmolochs London. Dann geht es pittoresk und deftig weiter. Es wird geliebt und gelebt, geklaut, gekotzt, gestorben.

Und selbst auf Molls Sarg wird noch gerammelt. Bis dahin ist die weiße Bühnenkiste versaut – voller Stofffetzen, die den Straßenkot symbolisieren. Und dabei so aseptisch bleiben wie diese Oper.

In der Staatsoper gehts in den Goldenen Westen

Ein einziger Vokalstar hat den unersättlichen Wienern nie gelangt. Und so eröffnete auch die Staatsoper die Saison als Sängerfest – mit einer Neuinszenierung von Giacomo Puccinis „La Fanciulla del West“. Dem hat Marco Arturo Marelli das Rauchende-Colts-Aroma ausgetrieben.

Stattdessen herrscht die bibelfeste Minnie, die doch beim Räuber Dick Johnson alias Ramerrez schwach wird und den schnell schießwütigen Sheriff Jack in die Prärie schickt, über eine zeitlose Container-Park-Kantine, wo entwurzelte Leiharbeiter Arbeit, Geld und kleines Glück suchen. Das stimmt im Detail, verdichtet sich beim Poker-Showdown mit Blutrand und darf auch sentimental leuchten. Zum Ende hin gestattet sich die Regie sogar Ironie und lässt das endlich traute Paar im regenbogenbunten Fesselballon in den siebenten Opernhimmel schweben.

Franz Welser-Möst kitzelt ein wenig laut, dabei mit Detailfinesse, die eckigen Modernismen dieser polyfonen Meisterpartitur heraus, doch nur den in der Mittellage etwas flachbrüstigen Tomasz Konieczny deckt er zu.

Nina Stemmes robust zärtliche, ja verletzliche, in kleinen Gesten präsente Minnie und Debütant Jonas Kaufmann als sinnlich kerliger, seine hohen Noten geradlinig ausfahrender Bandit in einer seiner jetzt schon besten Rollen – sie sind pures Publikumsglück.

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