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Hamburg

Psychothriller mit Vamp

Korngolds meisterhafte Oper "Die tote Stadt" feiert am Theater Lübeck umjubelte Premiere

Erich Wolfgang Korngolds Meisterwerk "Die tote Stadt" ist, auf seine spezielle Art, sehr sonderbar. Der Plot dieser so sehr zu Unrecht vernachlässigten Rarität, die das Lübecker Theater jetzt auf seinen Spielplan stemmte, liest sich wie die Kreuzung einer wunderlichen Psychiatrie-Krankenakte mit dem Drehbuch von Hitchcocks Leichenschmus "Vertigo", das sich fast vier Jahrzehnte später auf die symbolistische Romanvorlage bezog.

Die letzten Worte der femme fatale Marietta, bevor diese männerverbrauchende Wasserstoffblondine mit einer Haarflechte ihrer toten Vor- und Doppelgängerin Marie erwürgt wird, sind: "Du bist verrückt". Und wie es sich für einen Psychothriller gehört, passiert der Mord, der gar keiner ist, weil das Opfer bereits verblichen ist, auf einer Art Therapeuten-Couch.

Das sehr jenseitig ausgerichtete Drama ist vor allem ein Zeitgeiststück aus den nach Halt und Sinn suchenden Jahren, die dem Ende des Ersten Weltkriegs folgten: Paul, ein Lebemann aus der belgischen Stadt Brügge, die der Oper ihren angemessen morbide Kulisse liefert, trauert seiner großen Liebe Marie hinterher und vergöttert eben jene Marietta, die ihr so ähnlich sieht und doch ganz anders ist. Der Witwer sieht sie überall und nirgends, halluziniert sie als Wiedergängerin in seine Gegenwart, in andere Männerarme und in seine Wohnung, die er wie einen Schrein mit Devotionalien ihrer Anmut ausstaffierte.

Am 4. Dezember 1920 hatte dieser Geniestreich des erst 23-Jährigen an der Hamburger Staatsoper sowie zeitgleich in Köln seine Uraufführung und wurde in Windeseile zum Welterfolg; voll und ganz verdient, denn die Partitur funkelt und schwelgt effektverliebt und gekonnt in spätestromantischem Klangrausch.

Man hört und bestaunt Korngold-Bravour vom Feinsten: das Beste von Strauss und Puccini, und das reichlich, etwas Mahler und Zemlinsky und Berg und Debussy und Wiener Operettenschmelz satt in den Tränendrückern "Glück, das mir verblieb" und "Mein Sehnen, mein Wähnen" und Musical-Süßstoff und schon Vorahnungen jener Filmmusiken, mit denen der in die USA emigrierte Jude ab 1934 in Hollywood eine zweite große Karriere startete.

Stilmittel genug also für mehr als nur diese eine Oper, die viel mehr verworrenes Spukstück ist als vordergründige Belcanto-Beschallung. Und fast unentwegt hat man Mitleid mit jedem Tenor, der sich die Angst erregende Partie des Witwers Paul aufhalsen ließ, weil sie sich fast pausenlos auf dem kräfteraubenden Hochplateau von Wagners Tristan bewegt.

Richard Decker, der Lübecker "Götterdämmerung"-Siegfried, blieb in der am Ende verdient umjubelten Premiere bei diesem Kräftemessen achtbar auf der Strecke - und dennoch war es ein undankbares Schicksal für ihn, weil mit dem Dirigenten Brian Schembri allzu oft die (verständliche) Begeisterung über die Doppelrahmstufe des Ideenspektakels durchging, mit der die Partitur aufwartete.

Schembri ließ zu sehr aufbrausen, was kontrollierter gehört hätte. Toll war's schon, wenn das junge Genie Korngold seinen dekorativen Einfallsreichtum ausbreitete, aber subtil und geschmeidig ginge anders.

Regisseur Dieter Kaegi beließ die Handlung dezent dort, wo sie vor allem spielt - in der Fantasie. Hineingeheimnist wurde kaum, das Abgründige des Wahns trat mit überschaubaren Mitteln offen, gut sichtbar zutage, obwohl die Wiederauferstehungsszene im zweiten Akt eher bescheiden weggestolpert wurde. Und dass Kaegi am bitteren Ende dem Ausweg des Librettos widerspricht, ist nur konsequent: Paul schafft es nicht bis zur rettenden Tür in die Realität, er klammert sich in seiner "Kirche des Gewesenen" lieber weiter an das Bild der Toten.

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Auch Ausrine Stundyte, die Kundry im Lübecker "Parsifal", steckte der Respekt vor ihren gestalterischen Aufgaben als Marietta hörbar in den Stimmbändern und den Nerven. Aber immerhin: Die am Ende einhellig bejubelte Inszenierung stand dem halluzinierenden Durcheinander nicht weiter im Weg, sondern bemühte sich, das surreale Taumeln zwischen Wirklichkeit und Wahn anschaulich und frontal zu verbildern.

So blieb ohne Wenn und Aber klar, wer hier die unsterbliche Hauptrolle spielte: Korngolds Musik.

"Die tote Stadt", die nächsten Aufführungen sind zu sehen am 12.4. und 25.4., 3.5. und 12.5., 2.6. und 15.6.; Infos unter: www.theaterluebeck.de

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