«Wahre Liebe fürchtet nicht»

Das Theater an der Wien zeigt Beethovens «Fidelio» in der ebenso anregenden wie berührenden musikalischen Auslegung durch Nikolaus Harnoncourt. Ein Grossereignis in der Welthauptstadt der Musik.

Peter Hagmann
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Keine Verklärung: der Gefangenenchor aus «Fidelio» im Theater an der Wien. (Bild: Moritz Schell)

Keine Verklärung: der Gefangenenchor aus «Fidelio» im Theater an der Wien. (Bild: Moritz Schell)

Je älter er wird, desto radikaler erscheint er – aber auch: desto klarer. Das ist nicht nach jedermanns Geschmack, aber Nikolaus Harnoncourt war noch nie jedermanns Geschmack. Umso mehr tut er für die Musik, wie sich jetzt, bei diesem einzigartigen Projekt des Wiener Theaters an der Wien, wieder erwiesen hat. Dort, am Ort seiner Uraufführung 1805, allerdings in der im Kärntnertortheater aus der Taufe gehobenen Fassung von 1814, hat Harnoncourt Ludwig van Beethovens Sorgenkind «Fidelio» neu beleuchtet – ein zweites Mal nach der Zürcher Einstudierung von 1992 und der in Graz mit dem Chamber Orchestra of Europe entstandenen CD-Aufnahme von 1994. Und noch nachdrücklicher in einer Weise interpretiert, die erkennen liess, dass Musik nicht einfach nur – natürlich darf sie das auch – Unterhaltung oder Erbauung bietet, dass sie vielmehr konkrete Botschaften übermittelt und den Zuhörer im Innersten berühren, ja mächtig schütteln kann.

Aufführung und Interpretation

Am Werk war diesmal der Concentus Musicus Wien, und das war genau das Richtige für den intimen Raum des Theaters an der Wien, vor allem aber für die Aussage, die Harnoncourt in Beethovens Oper sieht. Natürlich singt «Fidelio» das Hohelied der Ehe, aber vielleicht handelt das Stück doch eher allgemein von der bis zum Letzten gehenden Solidarität zwischen zwei Menschen, die einander in Liebe zugetan sind, also um die Unbedingtheit des Gefühls. Und, genauso sehr, um seine Gefährdung durch eine von roher Gewalt bestimmte Umgebung – womit jener Kontrast geschaffen ist, aus dem Theater entsteht und an dem sich Harnoncourts Energien entzünden. Deutlich wird es gleich in der Ouvertüre, wo die einer Fanfare gleichende Eröffnung scharf emporstürmt, während die Antwort darauf nach einer merklich verlängerten Pause viel langsamer und ganz zart erklingt. Dabei ist der Concentus derart identifiziert mit seiner Aufgabe, dass sich ungeheure Spannungen aufbauen.

Wie sich der Vorhang hebt, geht der Blick nicht in die gemütliche Wohnung Roccos und auch nicht auf das hier obligate Bügelbrett, sondern in ein mausgraues Büro, an dessen mächtigem Schreibtisch die Gewalt der Administration ausgeübt wird. Die Uniformen des Gefängnispersonals hat Birgit Hutter neutral gestaltet, ihre Formen lassen aber so gut wie die auf Einschüchterung zielende Architektur des verstorbenen Bühnenbildners Rolf Langenfass unzweideutig an die braune Diktatur denken. Ist es ein Zufall, dass diese Bilder gerade jetzt zu sehen sind, 75 Jahre nach jenem «Anschluss» Österreichs, an den eine kleine, aber sehr bewegende Ausstellung im Prunksaal der Nationalbibliothek erinnert? Auf dieser Grundlage baut Herbert Föttinger, Schauspieler, Künstlerischer Leiter des Wiener Theaters an der Josefstadt und Opern-Debütant, eine Inszenierung, welche die von Harnoncourt angelegte Deutung genau und konsequent umsetzt und dabei die handelnden Figuren mit scharfen Profilen versieht.

Marzelline ist da nicht ein harmloses junges Ding, sondern, daran lässt Anna Prohaska mit ihrem entschiedenen Zugriff keinen Zweifel, eine Frau, die weiss, was sie will. Was er will, weiss auch Jaquino (Johannes Chum), ein Angepasster, der zu allem bereit ist. Rocco, der Chef des berüchtigten Gefängnisses, in dessen Tiefe Florestan schmachtet, ist kein im Grund gütiger Brummler, sondern, wie Lars Woldt mit seinem unglaublich voluminösen Bass hören lässt, ein gefährlicher Spiesser. Während Pizarro bei Martin Gantner, der über einen leichten Bariton verfügt, zu einem Intellektuellen wird, der aber nicht davor zurückschreckt, einen am Boden liegenden Bürogehilfen mit einem gezielten Schuss niederzustrecken. Wie aus einer anderen Welt kommen Florestan, den Michael Schade mit einer für einmal nicht geschrienen Kerkerarie einführt, und Leonore, die als Fidelio äusserst raffiniert mit der Umgebung spielt, um ans Ziel zu kommen, und dennoch ganz liebende Frau bleibt – Juliane Banse macht das grossartig.

Sein besonderes Leben erhält das Geschehen freilich aus dem musikalischen Verlauf – und seinen Überraschungen. Dafür sorgen vor allem die zum Teil ungewöhnlichen Tempi. Wenn die Menschen bei sich und ihren Gefühlen sind, lässt ihnen Harnoncourt alle Zeit – wie etwa in dem zum Sterben schönen Quartett des ersten Akts. Die Arroganz der Macht ist dagegen in schnelle Zeitmasse gekleidet; den Marsch zum Auftritt Pizarros nimmt Harnoncourt hurtig, dafür lässt er dort das Kontrafagott wie das Piccolo klar heraustreten. Wie er überhaupt die Instrumentalfarben pointiert einsetzt: So scharf schneidend hört man die verminderten Septakkorde, die hier von zum Teil gestopften Naturhörnern gespielt werden, kaum je. Noch mehr staunen macht das Mass, in dem sich die Tempi (zum Ärger der diversen Hilfsdirigenten im Publikum) in Bewegung befinden: dem Ausdruck angepasst, wie es ehedem Sitte war. In ihrem eröffnenden Duett singen Jaquino schnell und Marzelline langsam aneinander vorbei; am Ende sind sie aber doch kunstvoll miteinander verbunden.

Standhaftigkeit in Autonomie

Für die Wendung sorgt am Schluss bekanntlich ein Deus ex machina, und das ist hier nicht der Minister, sondern Garry Magee in der Maske Beethovens. Da wird als Appell an die heute so gefährdeten Werte der Aufklärung auf den Idealisten verwiesen, der «Fidelio» geschrieben hat und ihm später seine neunte Sinfonie folgen liess. Nur konsequent, dass das Finale dann konzertant gegeben wird: mit dem formidablen Arnold-Schönberg-Chor in Reih und Glied. Schliesslich geht auch im Saal das Licht an: Wenn die Retterin des Gatten besungen, wenn Standhaftigkeit in Autonomie beschworen wird, dann sind wir alle gemeint.