Veranstaltungen & Kritiken Musiktheater |
|
Die Pflicht der zweiten Nacht
Von Joachim Lange
/
Fotos von Thomas M. Jauk / Stage Picture
Für den Erfolg von neuen Opern sind der Uraufführungsbeifall oder das Feuilletonlob nicht so entscheidend wie der Abstand zur nächsten Inszenierung. Für Manfred Trojahns achtzigminütiges Musiktheater in sechs Szenen mit dem schlichten Titel Orest gab es 2011 bei der Uraufführung an der Nederlandse Opera in Amsterdam (unsere Rezension) viel Beifall. Für das Stück und für die musikalische und szenische Sorgfalt seiner Umsetzung. Marc Albrecht hatte sensibel dirigiert. Und Katie Mitchell projizierte das notorische Rache-Morden bei den Atriden akribisch in ein (klein-)bürgerliches Vierwändeformat. Erwartungsgemäß wurde Orest beim alljährlichen Branchenranking der Zeitschrift Opernwelt mit dem Prädikat Uraufführung des Jahres bedacht.
Die überlebensfördernde zweite Inszenierung besorgte jetzt Enrico Lübbe. Dafür machte er auf seinem Weg vom Schauspiel Chemnitz auf den Chefposten des Schauspiels Leipzig sozusagen einen Umweg über die Staatsoper Hannover. Unter dem Intendanten Michael Klügl wird an diesem Haus seit Jahren eine ambitionierte Programmpolitik betrieben und szenisch auch mal etwas riskiert. Die aktuelle deutsche Erstaufführung passt genau in diese Linie.
Enrico Lübbe setzt mit seiner Deutung auf eine postkatastrophische Grundstimmung. Dafür hat Etienne Pluss einen (für Lübbes Ästhetik bislang eigentlich untypisch sinnlichen) Einheitsbühneraum gebaut, dessen einstige Pracht kaum noch zu erkennen ist. Die Zwischendecken sind eingestürzt der Boden ist aufgerissenen. Alles ist mit Zivilisationsmüll und einer beklemmenden Katastrophenstimmung gefüllt und so zu einem psychischen Innenraum gemacht.
Im Gegenlicht Apollo als Dionysos und vorne die Wiedergängerinnen der toten Klytämnestra
Die Handlung des 80minütigen Musiktheaters in sechs Szenen setzt da ein, wo Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss in ihrer Elektra enden. Es beginnt mit dem durchdringenden Todesschrei der Klytämnestra und durch den Raum schwirrenden Orest-Rufen, um dann in Trojahns zwischen Raunen und dramatischer Wucht changierender Musik hinein zu gleiten. Klytämnestra ist freilich schon tot, ihr Schrei kommt aus Orest heraus. Ist Ausdruck seines Traumas immerhin hat er ja, wenn auch auf Geheiß des Gottes Apollon seine Mutter ermordet.
Dirigent Gregor Bühl setzt dabei mit dem Niedersächsischen Staatsorchester auf vokale Eloquenz und szenische Dynamik von Trojahns Musik, die schnell ihre packende Wucht entfaltet und gefangen nimmt. Was auf den ersten Blick wie eine bloße Blutrache-Endlosstory anhebt, kreist bald um die Frage nach den seelischen Folgen der Fremdbestimmtheit des Handelns und dem Dilemma einer schuldlosen Schuld. Orest hat den Mord an seiner Mutter zwar auf Geheiß des Gottes Apollo/Dionysos ausgeführt und damit deren Mord an Agamemnon gerächt. Doch er fühlt sich schuldig, sieht die Tote ständig in vielfacher Gestalt herumgeistern. Tomasz Zagorski taucht im Pelz und schmuckbehängt wie ein Zuhälter auf. Er will Orest (mit Mut zum Hässlichen: Bjørn Waag) genauso wie seine im Racheterrorwahn aufblühende Schwester Elektra (furios: Khatuna Mikaberidze) zu immer neuen Morden antreiben. An der heimgekehrten Helena (Dorothea Maria Marx) etwa.
Orest und Elektra schauen auf Berge von Leichen
Die wird bei Lübbe mit Eimern voller Blut überschüttet, bis sie tot am Boden liegen bleibt. So wie auch all die Wiedergängerinnen von Klytämnestra. Aus all der beklemmenden Wucht der Rachemorde führt kaum ein Weg heraus. Es sei denn, einer löst sich vom Rachegesetz und dem Machtanspruch der Götter. Was Orest versucht, nachdem er Helenas unschuldige Tochter Hermione (als personifizierte Unschuld: Romy Petrick) nicht zu ermorden vermochte als er ihr in die Augen gesehen hatte. Die beiden schaffen es auszusteigen. Sie treten durch den gleißenden Neonrahmen vor an die Rampe. Drinnen freilich ist der Platz von Orest schon wieder besetzt. Und der fürchterliche Aufschrei vom Anfang wiederholt sich.
Die deutsche Erstaufführung von Trojahns Orest war musikalisch und szenisch in Hannover in den besten Händen. Es ist ein Abenteuer, auf diese Weise in die Abgründe der Menschen zu blicken. Aber eins, das sich auch für andere Häuser lohnen würde.
|
Produktionsteam
Musikalische Leitung
Inszenierung
Mitarbeit Regie
Bühne
Kostüme
Choreinstudierung
Dramaturgie
Solisten
Orest
Menelaos
Apollo/Dionysos
Hermione
Helena
Elektra
|
© 2013 - Online Musik Magazin
http://www.omm.de
E-Mail: oper@omm.de