Es sind in Buenos Aires durchaus aktuelle Deutungsansätze zu finden: Wagners "Walküre"-Teil aus dem "Ring" mit soldatischem Flair.

Foto: Prensa-Teatro Colón

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Wagners Opern sind besonders geeignet, aus der Bahn zu geraten, szenisch, musikalisch und überhaupt - der Nibelungen-Ring ganz besonders. Dieses Monstrum ist kaum noch von einem Opernhaus zu stemmen und daher besonders beliebt. Wer will schon fehlen im Reigen derer, die es "noch" bringen, gerade in Hinblick auf das Wagner-Jahr 2013. In Argentinien hat die Krise allerdings längst die Substanz angegriffen. Da gerät das Projekt eines Rings an einem Tag schnell in den Verdacht einer Sparvariante. Ist es aber nur auf den ersten Blick, denn was Cord Garben auf sechseinhalb Stunden Musik eingedampft hat, ist unter der Hand zur längsten Wagner-Oper überhaupt geworden.

Das Teatro Colón wollte sich dieses kühne Streichkonzert indirekt vom Meister absegnen lassen, indem man Urenkelin Katharina Wagner als Regisseurin engagierte. Was als werbewirksamer Coup gedacht war, endete schnell. Als es mit den Proben losgehen sollte, kam sie, sah (alles Mögliche) nicht und flog wieder ab. So ganz passten der Pragmatismus am Rio de la Plata und die Arbeitsweise des Hauses Wagner nicht zusammen. Doch wo der Staat Krankenhäusern ein Drittel ihrer Mittel gestrichen hat, kann man sich, um den Preis des Überlebens, keinen geplatzten Ring leisten. Und wie das Haus und sein Chef García Caffi den Super-GAU verhindert haben, nötigt Respekt ab.

Die von Katharina erst gecastete, dann geschockte Sängercrew blieb (bis auf Torsten Kerl, für den jetzt Stig Andersen Siegmund war). Die als Ersatz todesmutig einspringende Valentina Carrasco übernahm nach 48 Stunden Bedenkzeit das Himmelfahrtskommando, sich in dem ursprünglich von Frank Schlössmann entworfenen und von Cales Berga angepassten Bühnenbild in wenigen Wochen eine eigene Deutung auszudenken und umzusetzen. Dafür, dass so etwas eigentlich gar nicht gelingen kann, ist das Resultat erstaunlich gelungen.

Eine ausgefeilte Personenregie gehört zwar immer noch nicht zu den Stärken Carrascos (von La Fura dels Baus). Dass Wotan in Generalsuniform und Fricka im Evita-Look an argentinische Herrscherlegenden erinnern, ist aber nicht plakativ. Denn die eigentliche zentrale Idee hat es in sich: Hier werden die Rheintöchter zu Rheinmüttern, und das Rheingold selbst sind sozusagen die Goldkinder. Alberich raubt als Gold einen Säugling. Und Nibelheim ist das finstere Innere einer Welt, in der schwangere Frauen misshandelt, ihnen die Kinder wie zu Zeiten der Militärdiktatur entrissen und ermordet werden.

In einem Land, in dem bereits mehr als einhundert Fälle dieser " verschwundenen" Kinder in Gerichtsverfahren aufgearbeitet werden, ist das ein starkes Stück Musiktheater. Dass diese Kinder, die dann von Fafner in einem Obelisken gefangen gehalten werden, auch Siegfried nicht befreit, da er sich nur für den Ring und die versprochene Braut interessiert, macht da genauso Sinn, wie das appellierende Finale, bei dem Menschenmassen auf die Bühne strömen und die befreiten Kinder in die Arme schließen.

Doch etwas Hoffnung

Wenigstens hier gibt es damit einen Funken Hoffnung. Diese argentinische Interpretation ist für hiesige Verhältnisse inhaltlich und stilistisch ambitioniert und in der Kürze wohl kaum besser umzusetzen. Aus dem zwanzigköpfigen Ensemble gebührt der Brünnhilde Linda Watson der Ring-Lorbeer. Die hervorragende Fricka Simone Schröder ist eines der Opfer ärgerlicher Striche, Marion Ammanns Sieglinde, Gerard Kims Gunther und Kevin Conners Mime sichern den Ensemble-Standard. Jukka Rasilainens Wotan gewinnt Statur, Leonid Zakhozhaevs Siegfried kommt zwar nicht im verständlichen Deutsch, aber mit Mühe doch noch beim Strahlemann an. Daniel Sumegi als Fasolt, Hunding und Hagen ist vokal ein Mittelding aus Geschmacksache und Zumutung.

Wenn man bedenkt, dass ganz Großen am Teatro Colón den Ring dirigiert haben, braucht man schon Pragmatismus, um, wie Roberto Paternostro - mit einer aus zwei Orchestermannschaften gemixten Grabenbesetzung - am Pult einzuspringen. Dabei kommt zwar keine Sternstunde heraus, doch gelingt ihm eine spürbare Steigerung. Freilich schafft auch er es nicht, den musikalisch dramatischen Sinn dieser Ring-Version zu beglaubigen, die eben leider auch im Detail ärgerliche Kürzungen vornimmt.

Am Ende gab es jedenfalls Jubel für die Interpreten und Buhs für die Regie. In dieser Beziehung zumindest also auch in Buenos Aires ganz normaler Wagner.    (Joachim Lange aus Buenos Aires, DER STANDARD, 14.12.2012)