Wege zu Gluck – oder von ihm weg?

Warum es gerade jetzt zu einer kleinen Gluck-Renaissance kommt, darüber liesse sich nachdenken. Zwei Produktionen in Wien, an der Staatsoper und am Theater an der Wien, zeigen ähnliche Ansätze, aber unterschiedliche Verwirklichungen.

Daniel Ender
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Tritt in Wollsocken zur Gluck-Renaissance an: Véronique Gens als Alceste. (Bild: Michael Poehn / Wiener Staatsoper)

Tritt in Wollsocken zur Gluck-Renaissance an: Véronique Gens als Alceste. (Bild: Michael Poehn / Wiener Staatsoper)

Seit das Theater an der Wien im Jahr 2006 als «das neue Opernhaus» angetreten ist, rittert es mit der Wiener Staatsoper um den ersten Rang unter den österreichischen Musiktheaterbühnen. Sein gegenüber dem Haus am Ring intimerer Rahmen, vergleichsweise mutige Regiekonzepte, eine gute Hand für die Auswahl an Stücken, Orchestern und Sängerbesetzungen sowie nicht zuletzt das Stagione-Prinzip (mit einer Premiere pro Monat) liessen es gegenüber dem behäbigeren Repertoirebetrieb an der Staatsoper (mit weit weniger Neuproduktionen) deutlich an Profil gewinnen. Die jüngsten Premieren der beiden Häuser provozierten einen direkten Vergleich, da sie im November beide eine Oper von Christoph Willibald Gluck auf den Spielplan gesetzt haben.

Pessimistische Weltsicht

Im Theater an der Wien fand der Gluck-Zyklus des Regisseurs Torsten Fischer seine Fortsetzung mit «Iphigénie en Aulide» in einer deutlich gestrafften Fassung und ohne das ausgedehnte Ballett. «Es geht um Krieg», so markiert Fischer im Programmheft seinen Zugang zum Drama, und das ist in der Ausstattung von Vasilis Triantafillopoulos und Herbert Schäfer nicht zu übersehen. In Riesenlettern und in allen möglichen Sprachen schreit es die Leuchtschrift von einer Gitterwand auf der Drehbühne, Waffen aller Kaliber sind die ständigen Begleiter der handelnden Personen rund um Agamemnon (Bo Skovhus), Clytemnestre (Michelle Breedt) und Iphigénie (Myrtò Papatanasiu). Den Schauplatz, auch das ist dank hyperrealistischer Bebilderung der Wände auf der Drehbühne mit ihrem klaustrophobisch verwinkelten Zentrum klar, bildet eine Ölraffinerie. So klar, so wenig raffiniert.

An der Staatsoper zeigte Christoph Loy seine gegenüber solchem plakativen Ideentheater weit weniger greifbare Inszenierung von Glucks «Alceste», die er bereits 2010 beim Festival d'Aix-en-Provence zur Diskussion gestellt hatte. Während Fischer mit gewaltsamer Gleichmacherei auf die Konflikte zwischen den Personen fokussierte, schaute Loy gleichsam in die Figuren hinein. Seine Suche nach dem, «was (bei Gluck) brüchig ist und irritiert», liest aus der Beziehung zwischen Admète (Joseph Kaiser) und Alceste (Véronique Gens) so etwas wie ein modernes Ehedrama heraus. Das Bühnenbild von Dirk Becker deutet dafür ein grossbürgerliches Ambiente an, das vor allem von hohen Wänden und einem Ehebett hinter einer riesigen Schiebetür repräsentiert wird.

Der Clou der Inszenierung liegt aber in der Behandlung des Chores: Loy zeigt ihn als Gruppe von lauter Kindern des Ehepaares, die zwischen den Eltern und ihren Konflikten hin und her geworfen sind, und findet zu einer Interpretation der gesamten Opernhandlung aus dieser infantilen Sicht. Das entbindet ihn auch von der Verlegenheit, den als Deus ex Machina auftretenden Hercule (Adam Plachetka) und den Schlund der Unterwelt logisch in das Geschehen einzugliedern. Stattdessen wird die glückliche Fügung zum Lieto Fine wie ein Kinderspiel mit ulkigen Verkleidungen inszeniert; der Wunsch, dass sich alles wieder zum Guten wende, bleibt freilich in der Luft hängen. Hier irren nämlich die Mitglieder des Gustav-Mahler-Chores ebenso wie die Ehegatten in zeitlupenhafter Unsicherheit über die Bühne und offenbaren subtil ihre Zerbrechlichkeit.

Wie der Regisseur das spürbar macht, zeigt seine Handschrift auf meisterhafter Höhe. Auch wenn es im Theater an der Wien handgreiflicher zugeht, lässt auch Torsten Fischer das Stück in ähnlicher Unordnung enden. So haben beide Ansätze ihre pessimistische Weltsicht und den Versuch, einen Aktualitätsbezug herzustellen, gemeinsam, auch wenn zwischen ihnen in handwerklicher und ästhetischer Hinsicht Welten liegen.

Enorm waren auch die Unterschiede in der musikalischen Umsetzung, und dies weniger deshalb, weil in beiden Opern die enormen Anforderungen der grossen Gesangspartien deutlich wurden – auch wenn beide Häuser auf durchwegs gute Besetzungen zurückgreifen konnten. Für «Iphigénie» versuchte Alessandro De Marchi mit den Wiener Symphonikern eine stilistisch möglichst stichhaltige Musizierweise mit schlankem, gläsernem Streicherklang, federnder Phrasierung und akkurater Artikulation. Dieser Gestus gelang dem modernen Sinfonieorchester, das mit einer Reihe von Originalinstrumenten durchsetzt war, auf durchaus verblüffende Weise, wenn er sich auch noch nicht ganz natürlich anhörte und es dem Orchesterklang in sich ein wenig an Ausgewogenheit fehlte.

Moderne Sprache von damals

Demgegenüber wirkte an der Staatsoper, wo seit kurzem mitunter auch andere Orchester als der hauseigene Klangkörper aufgeboten werden, schon die Ouvertüre wie ein Paukenschlag: Denn das Freiburger Barockorchester agierte im grossen Haus so kraftvoll, dass es häufig nicht weniger laut als ein klassisches Orchester wirkte. Mit enormem Zugriff, dabei aber immer elastisch gestaltete der Dirigent Ivor Bolton die wenigen dezidiert dramatischen Passagen, hielt das Geschehen so abwechslungsreich wie nur möglich im Fluss. So liess er die zahlreichen Wiederholungen mit all ihren Redundanzen immer wieder anders abschattieren und förderte dabei berückende Klangwirkungen zutage, mit denen De Marchi und die Symphoniker bei aller Liebe nicht mithalten konnten. Freilich ist «Alceste» in der zweiten, französischen Fassung (1776) auch von einem ganz anderen Schlag als «Iphigénie en Aulide», die zwei Jahre zuvor in Paris uraufgeführt worden war. Ungleich runder erscheint das etwas jüngere Werk, viel dankbarer auch hinsichtlich seiner für Glucksche Verhältnisse extremen und häufigen Kontraste.

Was bleibt, ist die Schwierigkeit, Glucks Werke jenseits der Kategorien «nicht mehr Barock» und «noch nicht Wiener Klassik» einzuordnen, seine damals moderne, reduzierte Musiksprache und sein demgegenüber anachronistisches Gefühl für Zeitgestaltung und Dramaturgie unter einen Hut zu bringen. Warum sich gerade in einer Zeit der Schnelllebigkeit eine kleine Gluck-Renaissance abzeichnet – darüber lohnte es sich vielleicht einen Moment nachzudenken.