Familienaufstellung einer neugierigen dörflichen Gemeinschaft: Mit " Jenufa" eröffnet Neo-Intendant Andreas Homoki die Saison am Opernhaus Zürich.

Foto: Monika Rittershaus

So viel Anfang ist selten in Zürich. Der neue Intendant Andreas Homoki wird im ersten Jahr nirgendwo anders inszenieren. Und er hat deutlich weniger Premieren als unter Alexander Pereira mit dem Versprechen, hohe Qualität zu liefern, verknüpft. Mit dem in Westeuropa gefragten Russen Dmitri Tcherniakov als Regisseur für die erste Premiere folgt Homoki seiner an der Komischen Oper ausgiebig praktizierten Vorliebe für interessante Regisseure. Tcherniakov holt Jenufa, die Geschichte eines tragischen Kindsmords, so radikal in die Gegenwart, dass beinahe jedes Mitgefühl für das Bühnenpersonal auf der Strecke bleibt.

Das geräumige, cleane Dreietagenhaus ist mit dem Charme einer Vorabendserie möbliert, doch ohne Lebensspuren eines Alltags. Auch die Kostüme von Elena Zaytseva erinnern an gesicherte, höchstens gefährdete Verhältnisse, das intendierte Mitfühlen und die mildernden Umstände für die Zwangslage, in die Jenufa und ihre Ziehmutter durch das uneheliche Kind geraten würden, fallen also weg. Der Versuch der Ziehmutter, für die Tochter eine bessere Lebensperspektive als für sich selbst zu sichern, wird zu einem eher individuellen Fall.

Die junge Frau verzeiht ihrer Ziehmutter den Tod ihres Kindes, die Musik driftet ins verhangen Hoffnungsvolle. Dass sie ihr auch ein verkorkstes Leben verzeiht und mit dem braven Laca einen Neuanfang versucht, das billigt Tcherniakov dieser Jenufa aber nicht zu. Man ist vom musikalisch untermauerten Verzeihen berührt, wenn Jenufa mit ausgebreiteten Armen auf Laca zugeht, doch dann drängt sie ihn nach draußen und schließt die Tür. Jetzt sind die drei Frauen allein in ihrem schrecklich cleanen Haus.

Jenufa nimmt der exaltierten Alten Buryja das Sektglas aus der Hand - die Traumwelt also, in die sie sich mit großer Geste flüchtete, streichelt dann der Küsterin scheinbar zärtlich die Wange, um plötzlich ihr Gesicht voller Verachtung wegzudrücken. Von nun an sind die Karten neu verteilt, das Kräfteverhältnis neu bestimmt. Jenufa hat sozusagen von einer Warte teuer erkaufter moralischer Überlegenheit aus die Macht im Hause übernommen. So löst Tcherniakov eine Versuchsanordnung auf, die gänzlich auf die soziale Einordnung der Geschichte in die Moralmaßstäbe einer dörflichen Gemeinschaft verzichtet.

Die exzellente Personenregie kann auf ein hervorragendes Ensemble bauen. Hanna Schwarz hat als Alte Buryja die große vokale Geste souverän zur Verfügung. Kristine Opolais macht die Entwicklung Jenufas von jugendlicher Ausgelassenheit zur Verhärtung überzeugend deutlich. Michaela Martens ist als relativ junge Küsterin mitunter etwas scharf, aber großformatig. Bei den Männern ist Pavol Breslik als Steva eine Idealbesetzung. Und Laca mit einem flexiblen Wagnertenor wie Christopher Ventris auszustatten gehört ebenso auf die musikalische Habenseite des Abends.

Fabio Luisi, Neogeneralmusikdirektor, lieferte zwar auch Transparenz, nahm aber den ganz eigenen Sog von Leos Janácek eher symphonisch, als auf dessen aufgeraute Suggestivkraft zu setzen. Szenisch und auch musikalisch bleibt in Zürich noch Luft nach oben. Das Premierenpublikum quittierte den Neuanfang mit heftigem Applaus. (Joachim Lange aus Zürich, DER STANDARD, 26.9.2012)