Bregenzer Festspiele: Parasiten am Leib der Revolution

(c) APA/DIETMAR STIPLOVSEK (DIETMAR STIPLOVSEK)
  • Drucken

Umberto Giordanos „André Chénier“ in der Inszenierung von Keith Warner erweist sich auch im zweiten Jahr als sehens- und hörenswertes Spektakel.

Verdammt, wieder sei Staub auf dem Kopf des Marat, entfährt es dem Arbeiter Mathieu am Beginn des zweiten Bildes – vielleicht jene Stelle für die entscheidende Inspiration des Bühnenbildners David Fielding. Denn in Bregenz bleibt es nicht bei einer mangelhaft gepflegten Büste in einem postrevolutionären Pariser Café, sondern der 1793 erstochene Jakobiner Jean Paul Marat selbst, wie ihn Jacques-Louis David gemalt hat, bildet den 24 Meter hoch aufragenden, spektakulären Schauplatz. Regisseur Keith Warner hat seine Inszenierung auf geglückte Weise leicht nachjustiert und versteht es erneut virtuos, die Handlung in unzählige, von artistischer Komparserie eindrucksvoll unterstützte Einzelelemente zu gliedern – und, wo nötig, auch wieder zu bündeln: Auf dem noch verhüllten Haupt tanzen zunächst die galanten Vertreter des Ancien Régime, bevor sich später um Augen, Mund, Hals, Schulter und Brust auf einem komplexen Treppensystem Extremisten und Vernaderer der Revolutionswirren wie Parasiten tummeln, aber auch jene einfachen Leute, die sich immer wieder als Verlierer der Systeme entpuppen.

Befreiender Tod auf dem Schafott

Dazwischen spielt sich eine fatale Dreiecksgeschichte ab, an deren Ende der im Finalduett mit elektrisierender musikalischer Spannung herbeigesehnte und -gesungene, weil befreiende Tod der Liebenden auf dem Schafott steht.

Optisch vielleicht am einprägsamsten aber wirkt, wenn Marats Kopf, als sei er durch die Guillotine abgetrennt worden, nach hinten kippt und den Blick freigibt auf jenes auf Bücherstapeln thronende, sich groß inszenierende Tribunal, das den Dichter Chénier zum Tod verurteilt, obwohl Gérard seine Vorwürfe widerruft – eine unaufhaltsame Tötungsmaschinerie, die höllische Ausgeburt eines kranken Hirns.

Im zweiten Jahr steht nun in Bregenz „André Chénier“ auf dem Spielplan der Seebühne: Umberto Giordanos mitreißendes Verismo-Drama aus dem Jahre 1896 zwischen pervertierter Politik und großen Gefühlen wird also wieder vorsichtshalber nicht unter dem Originaltitel mit der italienischen Form des Vornamens gegeben, sondern quasi rückübersetzt – wohl um bei Novizen nicht die Erwartung einer Dame namens „Andrea“ zu wecken. Dass offenbar auf dem Bodensee, wie der Kartenverkauf leider immer noch vermuten lässt, nach wie vor als Rarität gilt, was in internationalen Opernhäusern zum Standardrepertoire zählt, ist wohl in der Publikumsstruktur der Festspiele begründet: Legt man solche Maßstäbe an, kann eben auch eine flügellahme Novität wie die am Vorabend uraufgeführte Oper „Solaris“ von Detlev Glanert als Avantgarde durchgehen.

Unter der zügigen, dabei aber Lyrik und Dramatik gut ausbalancierenden Leitung von Ulf Schirmer gelingt es den Wiener Symphonikern, manchen durch die Tonanlage verschuldeten Härten zum Trotz, einen großen Bogen zu spannen von Giordanos zarten Soli über seine ekstatischen Aufschwünge bis hin zur wilden Revolutionsmusik von David Blake, die zwischen den ersten beiden Bildern eingefügt wird.

Als Titelheld war bei dieser von Regen und Kälte wundersam verschont gebliebenen Wiederaufnahme erneut Héctor Sandoval zu erleben, der in seinen besten Momenten mit dunklem Schimmern erfreute, in der Höhe aber nicht immer so ausladend klang, wie erhofft. In Tatiana Serjan stand ihm eine Maddalena der üppig-imposanten Kategorie zur Seite, die mit ähnlich zunehmender Kontrolle sang, wie der zunächst allzu bösewichtartig tönende John Lundgren als Gérard. Großer Jubel für alle.

www.bregenzerfestspiele.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.07.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.