Regisseur Benedikt von Peter erklärt, was Bachs Matthäus-Passion an der Deutschen Oper mit Klimaaktivistin Greta Thunberg zu tun hat.

Benedikt von Peter gehört zu den risikobewussten Regisseuren, die in den Opernhäusern gerne die traditionelle Guckkastenbühne ignorieren und lieber ungewöhnliche Raumlösungen ausprobieren. An der Deutschen Oper hatte der gebürtige Kölner bereits 2015 Verdis „Aida“ auf klangmagische Weise in den Zuschauerraum ausgedehnt. Jetzt zeigt der 46-Jährige Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion in seiner szenischen Neuausdeutung im Charlottenburger Opernhaus.

Bachs Passion über das Leben und Sterben Jesu Christi ist ein Seelenstück des protestantisch-christlichen Glaubens. Aber wer ist Ihr Adressat in einem säkularen Berliner Opernhaus?

Benedikt von Peter Die Passion wird oft in Kirchen aufgeführt. Wir schauen uns im Opernhaus die Geschichte an, die nicht nur religiöse Auswüchse hatte, sondern unser Leben bis heute durchdringt. Der Protestantismus und seine Werte finden sich in allen Ritzen unseres Alltags, ob im Lehrsystem oder versteckt im Kapitalismus. Es geht um Demut, das Erdulden, das sich aufopfern. Es ist zwar eine Geschichte aus der Religion, aber das Wertesystem gehört der westlichen Welt. Über den Adressaten kann ich nur wenig sagen. Aber an der Aufführung sind jetzt viele Kinder beteiligt, von denen ich denke, dass sie bislang wenig Kontakt zur Religion haben.

Die Passion haben Sie einmal als eine Art Wertemaschine bezeichnet. Das müssen Sie bitte erklären?

Die Passion ist ein großer Emotionsausbruch. Bei Bach in der Leipziger Thomaskirche hatte man an Karfreitag inmitten der Musik gesessen. Die Leute haben an dieser Wertemaschine aufgetankt. Und die dahinterliegenden Ideen sagen etwas über die Art des Zusammenlebens. Dann sind die Leute aus der Kirche wieder in ihr Leben hinausgegangen. Warum gibt es Passionsspiele oder später das Theater? Man geht hinein und erfährt etwas über bestimmte Situationen des Daseins. Die Oper des 19. Jahrhunderts steht auch in der Nachfolge der Passionsspiele, wenn es um Märtyrer oder Märtyrerinnen geht, die ihren Körper für eine große Idee aufgeben. Zur Idee gehört es, eine Gemeinschaft zu formen.

Nach dem Soziologen Max Weber hatte der Protestantismus maßgeblich den Kapitalismus vorbereitet. Wie politisch ist die Matthäus-Passion heute?

Es ist ein enormes Statement. Denn jemand, den man laut Geschichte zu Unrecht einsperrt, foltert und kreuzigt, schweigt einfach und tut nichts. Das ist ein politischer Moment, der verstören kann. Die gesellschaftliche Vereinbarung am Ende ist, dass in uns Ruhe einziehen kann, weil Christus uns die Sünden genommen ist. Das ist eine seltsame politische Konstruktion.

Klimaaktivistin Greta Thunberg bei den Protesten in Lüetzerath.
Klimaaktivistin Greta Thunberg bei den Protesten in Lüetzerath. © epd | Guido Schiefer

Ihre Matthäus-Passion hatte bereits am Theater Basel, wo Sie Intendant sind, im vergangenen Jahr Premiere. Wir wissen also schon, dass Sie auf heutige Jugendbewegungen eingehen und mit Greta Thunberg ein ikonografisches Bild dafür gefunden haben.

Es kursieren tatsächlich Bilder von Greta mit Dornenkrone im Internet. Aber die Kinder, die bei uns auf der Bühne mitmachen, sind zwischen acht und vierzehn Jahre alt und damit jünger und unschuldiger als Greta. Mir geht es in erster Linie um eine symbolische Ambivalenz. Ein toter Mann am Kreuz ist für ein Kind nur schwer verständlich. Es ist eine grausame Ikonographie und zugleich eine Geschichte, mit der man sich identifizieren soll. Diese Ambivalenz wird durch die Darstellung der Kinder umso deutlicher. Über Greta hat „Die Zeit“ einmal geschrieben, dass mit ihr die Figur des bedrohlichen und bedrohten Kindes die Bühne betreten habe.

Also hatten Sie als Regisseur diese konkrete Anspielung wirklich im Sinn?

Ja und nein. In der modernen Greta-Erzählung ist das Opfer schnell ausgemacht. Es sind die Kinder, die durch ihre Eltern um ihre Zukunft beraubt werden. Ich denke aber nicht, dass diese Generation etwas mit der geopferten Jesus-Figur anfangen kann. In unserer Handlung gibt es ein etwas älteres Mädchen, unsere kleine Jesa-Greta, die die Geschichte mit Blick auf die Zerstörung der Natur befragt und am Ende einen anderen Weg einschlägt. Wir erleben gerade eine Art Revolution im Bereich des Genderns oder der Geschlechterneuordnung. Themen wie Nachhaltigkeit und Ökologie werden massiver verhandelt. Es geht um Zukunft, aber auch um die heutige Angst vor dem Tod.

Bei den Berliner Philharmonikern unter Simon Rattle hatte Regisseur Peter Sellars vor einigen Jahren die Matthäus-Passion auf die Bühne gebracht. Was haben Sie anders gemacht?

Ich habe seine Produktion gut studiert und kenne ihn auch gut von früher, weil ich bei ihm assistiert hatte. Sellars geht durch seine Solisten affirmativer mit dem Schmerz um. Der Schmerz Jesu Christi wird zelebriert. Bei uns geht es etwas naiver, aber auch ambivalenter zu. Weil die Kinder die Passion nachspielen, kann der Zuschauer es süß oder beeindruckend finden oder einfach nur distanziert durch die Ambivalenzbrille draufschauen.

Als Regisseur stehen Sie für raumtheatrale Ansätze. Bach hatte in der Leipziger Thomaskirche seinerzeit nichts anderes gemacht, indem er zwei Chöre und zwei Orchester im Raum platziert hatte.

Wir haben noch ein bisschen aufgestockt. Wir haben Orchester drei und vier, die Musiker sind wie ein Kreuz im Raum verteilt. Auf der Bühne gibt es eine Tribüne, auf der Zuschauer sitzen. Wir haben auch einen dritten Chor im zweiten Rang. Die Musik wird inmitten des Raumes zelebriert. Wir wollten aber die Passionsgeschichte nicht dekonstruieren. Die Passion ist bizarr und vielschichtig genug. Unter den Zuschauern versteckt befinden sich Sänger und Sängerinnen aus Laienchören. Bei zwei Chorälen kann die Gemeinde beziehungsweise das Publikum mitsingen.

Es gibt bei Bachs Matthäus-Passion das Problem mit Martin Luthers hasserfüllter Sicht auf Juden. Wie gehen Sie mit dem Antijudaismus der Reformation um?

Ich bin vorher das Stück mit dem Dramaturgen Daniel Cremer, der sich wirklich gut mit Religion auskennt, durchgegangen. Dabei spielte das Thema Antisemitismus auch im Blick auf die Rezeptionsgeschichte eine Rolle. 1827 erlebte die bereits vergessene Bachsche Matthäus-Passion durch Felix Mendelssohn Bartholdy in der Berliner Sing-Akademie ihre Wiedergeburt. Das war eine Zeit, in der neue Nationalstaaten gegründet wurden, man anfing, gemeinsam zu singen und zu wandern. Das Martyrium erhielt eine neue kollektive Bedeutung, die bis ins 20. Jahrhundert hineinreichte. Bei uns agieren die Kinder auch wie kleine Soldaten. Man kann den unschönen Drill spüren.

Sind Sie selbst ein gläubiger Mensch?

Ja. Und ich bin auch jemand, der das in seinem Leben nie hinterfragt hat. Vielleicht, weil ich einen Beruf habe, indem ich so viel hinterfragen kann. Wenn ich in die Kirche gehe, bin ich total spießig.

Deutsche Oper, Bismarckstr. 35, Charlottenburg. Tel. 34384343 Termine: 5., 13., 18. und 21. Mai