Lolita und der Freund des Präsidenten

Eine Opernproduktion in Sankt Petersburg sorgt kurz vor dem Ausbruch der Pandemie für Diskussionen: Ausgerechnet der Putin-Vertraute Valery Gergiev lotet darin die Grenzen der Kunstfreiheit in Russland aus.

Marco Frei
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Nur das Quietschentchen war Zeuge: Pelageya Kurennaya als Lolita in bei der Aufführung am Prager Ständetheater.

Nur das Quietschentchen war Zeuge: Pelageya Kurennaya als Lolita in bei der Aufführung am Prager Ständetheater.

Hana Smejkalová/ Patrik Borecký / Nationaloper Prag

Auch am Mariinsky-Theater ist die Corona-Krise längst angekommen. Das Virus hat den Spielbetrieb des Opernhauses in Sankt Petersburg fest im Griff. Mindestens bis 11. Mai bleibt das Theater geschlossen, alle Aufführungen wurden verschoben oder abgesagt. Das tangiert auch die Vorstellungsserie einer besonderen Oper, «Lolita» von Rodion Schtschedrin. Für den Dirigenten Valery Gergiev ist das ein herber Schlag, denn es war dem langjährigen Mariinsky-Leiter ein Herzensanliegen, diese 1994 in Stockholm uraufgeführte Oper endlich an seinem Haus in Russland zeigen zu können. Er ging dafür sogar manches Wagnis ein.

Bei der Petersburger Erstaufführung, die Mitte Februar noch stattfinden konnte, war neben einflussreicher Schickeria auch viel junges Publikum vertreten, die Premiere wurde zum medialen Grossereignis. Kein Wunder: Immerhin basiert der Opernstoff auf dem gleichnamigen Skandalroman des Exilrussen Vladimir Nabokov. Die Produktion wurde zwar von der Nationaloper in Prag übernommen, die dort im Herbst 2019 am Ständetheater Premiere hatte, der Brisanz der Petersburger Aufführung tat dies aber keinen Abbruch. Denn «Lolita» ist in Russland immer noch ein Politikum.

Schwieriger Stoff

In der Sowjetunion durfte Nabokovs «Lolita» von 1955 erst im Jahr 1989 veröffentlicht werden. Noch bis Mitte der 1980er Jahre waren die meisten Bücher von Nabokov in der UdSSR verboten. Vor 1989 kursierte «Lolita» deshalb nur in illegalen Kopien. Auch der inzwischen 87 Jahre alte, in München und Moskau lebende Rodion Schtschedrin, der im Westen vor allem durch seine «Carmen-Suite» bekannt geworden ist, hat das Buch zuerst in dieser Form kennengelernt.

Es geht in der Oper wie im Roman um den pädophil veranlagten Humbert Humbert, der sich in die zwölf Jahre alte Dolores Haze verliebt. Um Lolita nahe zu sein, heiratet Humbert deren Mutter. Als sie einen Verdacht schöpft und ihre Tochter aus dem Haus schicken möchte, erwägt Humbert, sie umzubringen. Ein tödlicher Autounfall kommt ihm zuvor. Als der Nebenbuhler Clare Quilty auftaucht, wird dieser von Humbert kurzerhand ermordet.

Bis 2003 war Schtschedrins Opernfassung (nach einer eigenen Texteinrichtung) nur in Ausschnitten bekannt, vor allem in Gestalt der von Mariss Jansons 2001 in Pittsburgh uraufgeführten sinfonischen «Lolita-Serenade». Gergiev selbst hat die «Lolita» 2008 in Samara und Petersburg geleitet, allerdings nur den zweiten Akt und konzertant. Die bis jetzt einzige szenische Aufführung in Russland wurde 2003 in Perm realisiert und bei einem Moskau-Gastspiel 2004 gezeigt. Damals war Russland unter Vladimir Putin noch eine andere Nation als heute.

«Traditionelles Familienbild»

Inzwischen reiten nämlich weite Teile der Gesellschaft auf einer prosowjetischen Nostalgiewelle. Selbst das grausame Wirken des Diktators Josef Stalin wird unterdessen relativiert, ein bizarrer neuer «Stalin-Kult» eingeschlossen. Keine guten Voraussetzungen für eine freie Rezeption von Werken wie «Lolita», die selbst im liberalen Westen das Moralempfinden mancher arg strapazieren – ganz zu schweigen von dem Rechtsempfinden und manch fragwürdigem Gesetz, das inzwischen in Putins Russland gilt.

Namentlich im Bereich von Ehe und Familie erscheint da vieles auf den ersten Blick gut gemeint, entpuppt sich aber als repressive Massnahme gegen die Meinungs- und Kunstfreiheit wie auch gegen Minderheiten. So führt der eigentlich begrüssenswerte Schutz von Minderjährigen dazu, dass ihnen nur ein «traditionelles Familien- und Sexualbild» vermittelt werden darf. Damit sollen Kinder und Jugendliche nicht zuletzt vor Pädophilie geschützt werden, so die offizielle Begründung. Die Regelung hat indes auch zur Folge, dass seit 2013 in Gegenwart von Minderjährigen nicht mehr offen über Homo- und Transsexualität gesprochen werden darf. Selbst die Beratung und die Betreuung sind faktisch kriminalisiert, mit gravierenden Folgen.

Unter jungen Homosexuellen und Transgenders ist die Selbstmordrate seither in die Höhe geschnellt. Dass die Premiere eines moralisch durchaus heiklen Werks wie «Lolita» in diesem Klima der Repression überhaupt durchsetzbar war, grenzt an ein Wunder; auch wenn die Oper auf der Website des Mariinsky-Theaters tatsächlich erst für Besucher ab 18 Jahren freigegeben war. Man tat sich dort immer schon schwer damit: «Lolita» war sicher nicht zufällig die einzige Oper des massgeblich von Dmitri Schostakowitsch geförderten Schtschedrin, die am Mariinsky-Theater bis anhin noch nicht gegeben wurde. Wie aus dem Umfeld der Opernhäuser in Prag und Petersburg zu hören war, soll sogar Gergiev selbst daran gezweifelt haben, dass das Projekt realisiert werden kann.

Gergievs Wandlung

Mindestens ebenso erstaunlich ist die Wandlung, die Gergievs Einsatz für das Stück markiert. Immerhin hatte Gergiev, damals designierter Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, an einer denkwürdigen Pressekonferenz im Dezember 2013 die repressive und offen homophobe Politik seines Freundes Putin noch weitgehend mitgetragen. Die Empörung über diese und ähnliche frühere Äusserungen hätte ihn seinerzeit um ein Haar die Berufung nach München gekostet; seither lässt er mehr Diplomatie walten. Was aber mag ihn bewogen haben, die Grenzen des Machbaren und der Kunstfreiheit in Russland nun doch einmal auszutesten und damit zugleich zu verschieben?

Womöglich hat ihn die Begegnung mit dem Werk selbst dazu inspiriert. Als Gergiev von der Aufführung von «Lolita» in Prag erfährt, reist er spontan nach Tschechien; im November 2019 besucht er eine Aufführung und ist angetan. Nicht nur von der ausgesprochen sensiblen Inszenierung der slowakischen Regisseurin Sláva Daubnerová und der kenntnisreichen Leitung des jungen Wahlberliners Sergei Neller, sondern auch von den Solisten. Tatsächlich boten Pelageya Kurennaya als Lolita, Petr Sokolov als Humbert, Daria Rositskaya als Lolitas Mutter Charlotte und Aleš Briscein als Humberts Nebenbuhler Quilty allesamt eindrückliche Charakterstudien – wahrlich keine einfache Aufgabe bei den Abgründen dieser Figuren.

Nach seinem Besuch der Prager «Lolita» wirft Gergiev den Mariinsky-Spielplan kurzerhand um. Er führt Gespräche, und am Ende kauft er die Prager Produktion ein. «Das konnte nur Gergiev gelingen mit seinen engen Kontakten», meint ein russischer Kritiker nach der Petersburger Premiere.

Mit seinem engagierten Opernprojekt hat Gergiev zumindest einen wunden Punkt der russischen Gesellschaft berührt. Hinter dem Reizthema Pädophilie steht dabei die viel grössere Frage nach der Freiheit der Kunst. Umso wichtiger wäre es, dass die geplante Reihe der «Lolita»-Aufführungen kein jähes Ende durch die Corona-Pandemie fände. Die Aufführung am 22. April wurde auf einen Termin «bis zum 2. Oktober» verschoben, heisst es auf der Website. Ob «Lolita» am 31. Mai planmässig realisiert werden kann, steht mehr denn je in den Sternen.

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