Thomas Hengelbrock: Zum Beruf "gehört, dass man seine eigene Meinung immer hinterfragt – so wie das Nikolaus Harnoncourt immer getan hat!"

Foto: Grandidier

STANDARD: Sie haben sich früh der "historischen Aufführungspraxis" verschrieben. Wie würden Sie diesen Begriff heute umreißen?

Hengelbrock: Ich habe ja als Student und als Assistent viel mit Komponisten zusammengearbeitet: mit Witold Lutoslawski und Mauricio Kagel, habe bei Luigi Nono viele Vorlesungen gehört und arbeite bis heute viel mit Komponisten zusammen. Das ist für mich eigentlich die Inspirationsquelle, sich genauso auch alter Musik anzunähern. Ich finde, man ist als Interpret verpflichtet, so viele Informationen wie möglich einzuholen. Meine Aufgabe sehe ich darin, Stellvertreter des Komponisten auf Erden zu sein, seine Werke wieder als Avantgarde hörbar zu machen. Das ist mein Leitbild, obwohl ich weiß, dass das ein Ideal bleiben muss. Ich möchte auch gar nicht meine eigene Persönlichkeit ausschalten.

STANDARD: Dabei steht die Frage im Raum, was sich von historischen Fakten erkennen lässt. Hat sich für Sie der Anspruch verändert?

Hengelbrock: Da hat sich viel getan. In den letzten 20 Jahren haben die Forschung und der Instrumentenbau große Fortschritte gemacht. Die Instrumente sind heute viel besser spielbar. Andererseits erstaunt mich immer wieder, wie unbeeinflusst von historischer Aufführungspraxis auch heute noch viele Studenten und auch Interpreten sind. Man kann auch nie sagen, dass man einmal das Wissen um eine bestimmte Aufführungspraxis hat. Man muss es ständig neu erwerben.

STANDARD: Ist denn Interpretation gemäß der historischen Information automatisch "besser"?

Hengelbrock: Es ist manchmal erstaunlich, dass man moderne Orchester sehr gut und genau artikulierend erleben kann, während manchmal gerade junge Kollegen auf Originalklanginstrumenten spielen, aber sich die Quellen gar nicht mehr zu eigen machen und gar nicht mehr selber die Fragen stellen, sondern nur kopieren. Das Instrumentarium ist nur die eine Sache, aber die Beschäftigung mit der Musik ist das Wichtigste. Dazu gehört es auch, dass man seine Meinung hinterfragt – so wie das Nikolaus Harnoncourt getan hat.

STANDARD: Sie haben ja in den frühen 1980ern auch im Concentus Musicus als Geiger mitgespielt. Wie wichtig ist für Sie als Dirigent die Erfahrung des Spielens?

Hengelbrock: Eminent – und das begleitet mich bis heute. Wenn ich tolle Geigen-Kollegen neben mir stehen habe, die das Konzert von Tschaikowsky oder Sibelius spielen, zucken die Finger meiner linken Hand fast mit. Auch die Ausbildung des Klangs ist bei mir stark über die Streichinstrumente erfolgt. Und es kommt mir bei Dirigaten die Orchestererfahrung zugute, auch psychologisch.

STANDARD: Was sind die Knackpunkte?

Hengelbrock: Durch die Erfahrung versteht man auch die Verhärtungen, die es in jedem Orchester gibt. Das ist nun einmal so. Aber auch wenn es mitunter Streit, Frustrationen geben mag: In jedem Orchester sitzen Leute, die diesen Beruf aus Liebe ergriffen haben, für die es nichts Schöneres gegeben hat. Das muss man als Dirigent verstehen und akzeptieren, ich versuche aber, Musikern die Freude zurückzugeben oder zu erhalten. Sie zu animieren und zu stimulieren ist mir sehr wichtig.

STANDARD: Bei Händel begegnen einander Handwerk und psychologische Geniestreiche. Wie geht das, dass er stark kompositorisches Recycling betreibt und die Stücke dennoch so stimmig wirken?

Hengelbrock: Das ist gerade in Agrippina sehr stark. Da gibt es frühere Werke wie Kirchenkantaten, die er hier wiederverwendet. Andererseits hat er sich später wieder bei Agrippina bedient. Daran haben seine Zeitgenossen nichts Verwerfliches gesehen, und noch Mozart hat ähnlich gearbeitet. Händel war damals in Italien ein junger Mann, und da gab es bei ihm eine Explosion des musikalischen Talents: Er sog alles auf wie ein Schwamm, bündelte es aber und schuf ein unglaublich dramatisches Stück mit vielen Rezitativen. Es ist vielleicht nicht so "schön" wie Rinaldo oder Alcina, aber sehr charakteristisch.

STANDARD: Macht das die Sache für die Interpreten schwieriger?

Hengelbrock: Nein. Man kann das mehr oder weniger mögen, aber wenn man sich damit beschäftigt, bekommt man den richtigen Zugriff auf das Stück. Man muss sich dazu bekennen, dass viele Arien nicht "schön", sondern charakteristisch sind, dass auch Farben der Bösartigkeit hineingemischt sind. Daher darf man das Stück nicht nur kulinarisch spielen. Ich denke aber, dass wir so tief hineingetaucht sind, dass sich die Dramatik aus diesem Grundverständnis heraus entwickeln kann. (Daniel Ender, 17.3.2016)