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Der deutsche Dirigent Christian Thielemann erinnert sich an den verstorbenen Kollegen Nikolaus Harnoncourt: "Da wurden einem schon die Ohren geöffnet!"


Foto: EPA/ARNO BURGI

STANDARD: Woran würden Sie Fortschritt beim Dirigieren festmachen, etwa am Ökonomischerwerden?

Thielemann: Ja, ich bin tatsächlich ökonomischer geworden. Wenn Sie in Bayreuth den Ring dirigieren oder bei 37 Grad Tristan, haben Sie gar keine andere Wahl. Zudem habe ich gelernt: Je kleiner die Bewegungen, desto genauer schauen die Musiker hin. Man hat mir schon gesagt, dass meine Art zu dirigieren nicht so elegant aussehe, aber warum soll ich elegant sein! Die Musik soll elegant klingen, wenn das gelingt, ist der Zweck erfüllt. Denken Sie an Nikolaus Harnoncourt. Er hatte eine sehr persönliche Art zu dirigieren. Aber die Ergebnisse, die er erreicht hat, sprechen für sich!

STANDARD: Neben Harnoncourt ist unlängst auch Pierre Boulez gestorben. Beide Epochengestalten scheinen für Sie künstlerisch aber keine große Rolle gespielt zu haben.

Thielemann: Da muss ich widersprechen! Ich habe bei Harnoncourt sehr genau zugehört und mir viele Gedanken gemacht über die Art und Weise, wie er die Dinge interpretiert hat. Es war schon erstaunlich, zu welchen Lösungen er kam, da wurden einem die Ohren geöffnet! Boulez habe ich sehr häufig erlebt, in Oper und Konzert. Bewundernswert, mit welch kleinteiliger, wunderbar unaufgeregter Dirigierweise er Details offenlegte. Als er in Bayreuth den Parsifal dirigierte, habe ich alle seine Proben angehört.

Es war ganz anders, als man es gewöhnt war. Beeindruckend aber, mit welcher Freundlichkeit er seine Ideen durchgesetzt hat. Er hat alles erreicht, ohne je unangenehm oder laut zu werden. Er war eine musikalische Autorität, wie man sie nur ganz selten erlebt hat.

STANDARD: Nun arbeitet Peter Ruzicka als geschäftsführender Intendant bei den Osterfestspielen Salzburg an Ihrer Seite.

Thielemann: Er ist jemand, auf den man sich verlassen kann. Wir harmonieren in Geschmacksfragen, er kann Qualität erkennen, ohne ideologisch zu sein – vor allem bei zeitgenössischer Musik. Wenn Peter Ruzicka etwa über eine Symphonie von Hans Werner Henze spricht, ist das ein Ereignis.

STANDARD: Kennengelernt hat er Sie bei einem Wettbewerb, bei dem Sie beharrlich nur wenige Takte des "Tristan"-Vorspiels probten ...

Thielemann: Ich flog deshalb aus dem Wettbewerb raus. Man sagte, ich hätte darauf hören sollen, wie das Orchester spielt. Zu meiner Verteidigung entgegnete ich: "Aber wenn das Orchester nicht so spielt, wie ich das haben möchte, was sollte ich anderes tun, als zu insistieren?" Einige fanden das gut, andere ganz und gar nicht. Der Kontakt zu Ruzicka war damit jedenfalls hergestellt. Und dann kam das Angebot aus Hamburg, den Tristan zu übernehmen. Ich war damals 23 oder 24 Jahre alt. Auch wenn es nur zwei Orchestersitzproben und keine Bühnenorchesterprobe gab, habe ich zugesagt. Eigentlich verrückt, aber das war der Beginn meiner "Wagnerei". Und wenn einer daran Schuld trägt, dann Peter Ruzicka.

STANDARD: Waren Sie beim Wettbewerb schlau oder besonders naiv?

Thielemann: Ich war jung und frech. Aber ich wusste, was ich tat. Wenn man jung ist, schießt man übers Ziel hinaus. Es ist doch schön, wenn junge Leute den Mut zur Übertreibung haben. Die Reife kommt schon, für die hat man später noch Zeit.

STANDARD: Da wäre das Neujahrskonzert der Wiener bald eine schöne Möglichkeit, Reife zu zeigen?

Thielemann: Werden wir sehen.

STANDARD: Würden Sie Nein sagen?

Thielemann: Wer würde da schon Nein sagen!

STANDARD: Nervosität ist ein Thema für Sie?

Thielemann: Manchmal ist Nervosität da, manchmal nicht. Manchmal wundere ich mich, warum ich nicht nervös bin; und es gibt Auftritte, da will man am liebsten weglaufen. Ich kann nicht sagen, woran das liegt. Es ist furchtbar. Aber eine gewisse Anspannung möchte ich nicht missen. Natürlich sagt das böse Teufelchen manchmal: Du hast es bisher geschafft, aber diesmal schaffst du es nicht! Man muss auf dem Boden bleiben, gesund leben. Ich werde auch immer vorsichtiger. Ich will nicht allzu übermütig werden, ich muss das Niveau halten, das spornt mich an.

STANDARD: In der heiklen Akustik des Salzburger Festspielhauses: Behandeln Sie Verdi anders als Wagner oder Strauss?

Thielemann: Eigentlich nicht. Es geht vielmehr darum, sich an die besonderen Verhältnisse zu gewöhnen. Die Dimensionen sind einfach enorm. Infolgedessen gibt es im Saal gute und weniger gute Plätze, die teilweise nah beieinanderliegen. Das ist den baulichen Gegebenheiten geschuldet. Unsere Aufgabe ist es, im Graben so zu musizieren, dass es überall möglichst gut klingt. Das Bühnenbild kann helfen. Es darf nicht zu sehr reflektieren, sonst klingt es im Saal schnell knallig. Das erfährt man aber erst, wenn das Orchester dabei ist. Die ersten Bühnenorchesterproben sind extrem spannend. Ein ähnlich heikler Raum ist jener in Bayreuth. Daher dirigiere ich niemals in Salzburg und Bayreuth parallel. Es dauert eine Woche, bis sich meine Ohren auf einen dieser Räume richtig eingestellt haben. (Ljubisa Tosic, 11.3.2016)