Der Lehrling des Fischers Peter Grimes ist tot. Grimes wird des Mordes verdächtigt: So der Plot der 1945 uraufgeführten Oper, die um 1830 an der Ostküste Englands spielt.

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Cornelius Meister: "Muße und Versenkung sind wesentliche Teile meiner Vorbereitung."

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STANDARD: Allein Ihre Auszeichnungen und dirigentischen Debüts der letzten Jahre zu erwähnen würde unseren Platz sprengen. Stimmt der Eindruck, dass Sie Ihre Karriere sehr umsichtig in Richtung einer globalen Präsenz gestalten?

Meister: Glücklicherweise geht es immer um die Musik – und darum, wie ich als Interpret diese Musik möglichst adäquat aufführen kann. Selbstverständlich stelle ich mir immer die Frage, an welchem Ort und mit welchem Orchester ich ein Stück optimal aufführen kann.

STANDARD: Hat das auch mit Ihrem Entwicklungspotenzial zu tun, mit möglichst vielen Orchestern zu arbeiten und möglichst viele Fußabdrücke zu hinterlassen?

Meister: Gerade diese Saison ist ein schönes Beispiel für eine weltweite gute Mischung. Ich habe im Sommer erstmals beim Mostly-Mozart-Festival in New York gearbeitet. Ich war aber auch mit dem RSO gleich auf zwei Tourneen. Ich bemühe mich bewusst darum, meinen Radius zu vergrößern. Allerdings ist es schön, dass ich in dieser Saison fünf verschiedene Opern in Wien dirigieren kann. Neben Peter Grimes sind das Ariadne, Arabella, Zauberflöte und Figaro an der Staatsoper. Meine künstlerische Heimat ist selbstverständlich Wien!

STANDARD: Ihr Debüt an der Scala war ein netter kleiner Ausflug?

Meister: Das war etwas Besonderes für mich, weil man der Scala nachsagt, ein völlig Neue-Musik-feindliches Publikum zu haben. Bei dieser Uraufführung (Giorgio Battistellis "CO2", Anm.) habe ich das Gegenteil erlebt. Publikum und Journalisten sind in eine Begeisterung verfallen, wie man das sonst von Verdi und Puccini kennt.

STANDARD: Das Alleinstellungsmerkmal des RSO ist seine hohe Kompetenz bei zeitgenössischer Musik; gleichzeitig hat es sich verstärkt um ein Profil beim historischen Repertoire bemüht. Gibt es für Sie grundsätzliche Unterschiede in der Herangehensweise?

Meister: Ich hoffe, dass es mir gelingt, jedes Mal das Spezifische einer Komposition oder eines Komponisten herauszuarbeiten – sei es Beethoven, Brahms oder Cerha. Grundsätzlich macht es aber keinen Unterschied, ob der Komponist noch lebt oder nicht. Vielleicht habe ich das Glück, nicht 20 Jahre früher geboren zu sein, wo noch stark danach gefragt wurde, ob man Dirigent für das Barockrepertoire, für neue Musik oder für das "normale" Repertoire ist. Ich nehme mir heraus, mich ganz bewusst mit allem zu beschäftigen. Für mich wäre es seltsam, wenn ich nicht aktiv mit historischer Aufführungspraxis und neuesten Spieltechniken in Berührung käme.

STANDARD: Kommen sich die Breite des Repertoires und der Anspruch auf Tiefe manchmal in die Quere?

Meister: Breite darf man nicht mit Menge verwechseln. Es war mir nie wichtig, jeden Abend zu dirigieren. Muße und Versenkung sind wesentliche Teile meiner Vorbereitung. Viel entsteht zwischen den Proben und den Momenten, in denen ich in die Noten schaue. Das gibt mir die Gelegenheit, in meinem inneren Ohr eine Interpretation zu festigen. Das passiert, wenn ich unter der Dusche stehe oder in der Natur unterwegs bin. Dinge reifen zu lassen, braucht Zeit.

STANDARD: Brittens Musik ist wohl auch eine, die man reifen lassen muss – sie braucht Präzision und Klangsinnlichkeit.

Meister: Ich stehe immer wieder staunend vor der unglaublichen Leistung, die Britten in seiner allerersten Oper vollbracht hat. Peter Grimes ist so vollkommen auf unterschiedlichen Ebenen, etwa in der Instrumentation. Obwohl das Stück relativ klein besetzt ist, hat es einen Klangreichtum, eine Opulenz, die eine viel größere Besetzung vermuten lassen könnte. Die Cleverness, mit der er bestimmte Bühnenmusiken integriert, ist herausragend. Die Selbstverständlichkeit, mit der er sechs orchestrale Zwischenspiele integriert, lässt staunen. Das sind nicht Verwandlungsmusiken, sondern sie haben ganz eng mit der Geschichte zu tun. Dann schafft er es, Naturstimmungen mit menschlichen Stimmungen zusammenzubringen: Wenn sich die Meereswellen heranschieben, sind das zugleich emotionale Wellen.

STANDARD: Was berührt Sie persönlich an diesem Stück am meisten?

Meister: Etwas, das in der heutigen Zeit besonders wichtig ist: Keiner der Charaktere auf der Bühne ist nur gut oder nur böse. Es gibt nicht den Bösewicht und die Guten, die für die gerechte Welt kämpfen. Jeder Einzelne auf der Bühne ist ein Mensch, der gleichermaßen gute und weniger gute Seiten hat. Wie man das einschätzt, ist für jeden im Publikum sicher unterschiedlich. Das ist in diesem Stück angelegt. Das Libretto und die Musik unternehmen keinen Versuch, das in die eine oder andere Richtung festzulegen. Diese Offenheit kennzeichnet dieses Werk, aber auch andere Stücke von Britten – und ist für uns heute etwas ganz Wichtiges. Auch wenn Dinge manchmal eindeutig scheinen – gerade in der Beurteilung von Gut und Böse oder richtig und falsch – kann man in einer anderen Sichtweise zu einer anderen Bewertung kommen. (Daniel Ender, 11.12.2015)