Unvermutetes Wiedersehen mit der einst Angebeteten: Probefoto aus Bizets Oper "Les Pêcheurs de Perles". U. a. mit Diana Damarau (Leila), Nathan Gunn (Zurga) und Dmitry Korchak (Nadir).

Foto: Werner Kmetitsch

Wien - Barockoper, zeitgenössisches Musiktheater und Opernraritäten: Die Gefilde, auf denen der Platzhirsch der Szene, die Wiener Staatsoper, nur selten äst, stellen die zentralen Wirkungsbereiche des Theaters an der Wien dar. Unerschrocken werden hier auch gegenwartsferne Werke - himmlischer Herrgott, hilf! - ins zeitgenössische Gewand des Regietheaters gekleidet.

Sind am geschichtsträchtigen Haus traditionell Claus Guth und Christoph Loy für solche Aktualisierungen zuständig, wurde nun Lotte de Beer auserkoren, Bizets selten gespieltes Frühwerk Les Pêcheurs de Perles aufzupolieren und in einer zeitgemäßen Fassung zu präsentieren.

Die junge Regisseurin hat bereits im Jahr 2013 an der mit dem Theater an der Wien assoziierten Kammeroper inszeniert und die Protagonisten von Puccinis La Bohème in ein glattes Luxus-Penthouse verpflanzt und an emotionaler Armut leiden lassen.

Ziemlich beste Freunde

Wie kam es zu dem Angebot, im Haus an der Wienzeile zu inszenieren? De Beer: "Roland Geyer hat gemeint: 'Ich habe da ein Stück, das ich ihnen anbieten kann. Aber es sind die Perlenfischer. Und ich weiß nicht, ob ich Ihnen das antun kann ...'"

Der Holländerin, die als Studentin beim aufklärerischen Regiegott Peter Konwitschny als Praktikantin arbeitete, ist es ein Anliegen, ältere Werke einem Publikum von heute zugänglich zu machen: "Ich finde es oft langweilig, wenn ich mir in der Oper Stücke ansehen muss, die in der Tradition des 19. Jahrhunderts inszeniert sind. Ich brauche eine Verbindung zum Heute, um meine Fantasie anzuregen", meint die quirlige, hyperfreundliche Holländerin.

Bizets 1863 uraufgeführte Oper spielt in einem exotischen Ambiente auf Ceylon, in einer fernen Vergangenheit. Zurga wird zum Chef der jährlichen Perlentauchaktion gewählt. Von irgendwoher schneit plötzlich Nadir herein, ein ehemaliger Busenfreund Zurgas. Beide hatten sich einmal in die Priesterin Leila verguckt, dann aber ihrer Liebe abgeschworen, um die Freundschaft nicht zu gefährden. Da taucht die Gottesfromme auf, die Liebe zwischen ihr und Nadir bricht sich Bahn, tumultuöse Ereignisse sind die Folge.

Den Kern der Geschichte sieht de Beer als stark und berührend, doch erkannte sie auch "viele unwahrscheinliche Zufälligkeiten im Libretto". Nach einem halben Jahr des Sinnierens und Gedankenaustausches mit Intendant Geyer fand sie schließlich einen Sinn machenden Rahmen für das Ganze: Die Handlung der Perlenfischer findet nun im Hier und Heute statt, und zwar im Rahmen einer Reality-Show. Eine asketisch lebende junge Frau wird in dieser auf eine exotische Insel verfrachtet und dort mit ihren beiden Ex-Beziehungen konfrontiert.

Dass dies eine kluge Idee ist, findet nicht nur Lotte de Beer, sondern auch der Bariton Nathan Gunn, der den Zurga gibt. Denn: "Ist die Freundschaft zwischen Zurga und Nadir wirklich so ungetrübt und stark?

"Da sind wir nicht so sicher", meint der US-Amerikaner. "In Lottes Inszenierung verhält sich Zurga unterschiedlich - je nachdem, ob die Kamera auf ihn gerichtet ist oder nicht. Wann täuscht er Gefühle vor, wann nicht? Ich glaube übrigens, dass diese Zwiegespaltenheit in seinem Charakter auch schon Bizet klar war. Doch dies schauspielerisch darzustellen, ist natürlich eine Herausforderung."

Reality-Show

Eine Parallele zu den TV-Shows von heute sieht de Beer auch in der Rolle des Chors in dieser Oper: Er ist fast immer präsent und greift aktiv ins Geschehen ein. Er wählt zu Anfang Zurga zum Anführer und fordert am Ende den Tod Nadirs und Leilas. "Und es gibt ja auch bei den Reality-Shows durch die Televotings eine Einbindung der Publikumsmasse in die Entscheidungen, wer rausfliegt", erklärt de Beer.

Ist man als Sänger über das Regiekonzept informiert, wenn man einen Vertrag zu einer Produktion unterschreibt? Nicht immer, meint Nathan Gunn. "In diesem Fall war ich es nicht. Aber ich bin begeistert von Lottes Konzept! Es ist doch unsere Pflicht, diese Kunstform lebendig zu halten und die Werke so zu erzählen, dass sie auch heute Bedeutung haben."

Eine Uraufführung hat der Starbariton auch vor einem Jahr am Theater an der Wien gesungen: Iain Bells A Harlot's Progress, zusammen mit Diana Damrau. Die deutsche Sopranistin ist auch wieder mit von der Partie: "Sie ist eine großartige, engagierte Sängerin ... Und da letztes Jahr die Zusammenarbeit so gut geklappt hat und es für uns beide terminlich gepasst hat, haben wir die Perlenfischer auch noch gemacht."

Auch Lotte de Beer streut den Mitwirkenden Rosen: "Sie sind alle intelligent, sie sind musikalisch extrem begabt, und sie sind auch tolle Schauspieler. Und der Chor agiert mit einer unglaublichen Energie. Ich bin sehr dankbar dafür. Ich fühle mich so überglücklich wie ein Kind vor einem Puppenhaus!" (Stefan Ender, DER STANDARD, 13.11.2014)