Das Gewöhnliche, witzig veredelt

Unter der Leitung von Pierre Audi ist das Holland Festival zu einem Ort des neuen Musiktheaters geworden. Das Hergebrachte wird ebenfalls gepflegt, sah dieses Jahr aber alt aus.

Peter Hagmann
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Das Buch ist klein, die Sache dagegen enorm. Das Holland Festival, das über den ganzen Monat Juni die quirlige Stadt Amsterdam noch quirliger erscheinen lässt, ist von beträchtlicher Dimension. Schauspiel, Tanztheater, Musiktheater gibt es, ausserdem Konzerte, interdisziplinäre Veranstaltungen, Workshops und Diskussionsforen – alles in Hülle und Fülle. Und für alles findet sich reichlich Publikum, auch junges Publikum – wobei «jung» in diesem Fall heisst: jünger als vierzig. Vom pluridisziplinären Ansatz her lässt sich das Holland Festival durchaus mit den Festspielen Zürich vergleichen, nur ist der quantitative, vor allem auch der finanzielle Rahmen in Amsterdam merklich weiter gespannt. Zudem fehlt es in der niederländischen Metropole nicht an aussergewöhnlichen Spielstätten. Nonos «Prometeo», der demnächst nach Zürich kommt, wird beim Holland Festival in der Westergasfabriek aufgeführt, auf einem stillgelegten und für kulturelle Zwecke umgebauten Industriegelände im Westen der Stadt.

Wir dagegen streben nun durch das prachtvoll ausstaffierte Treppenhaus des alten Amsterdamer Stadttheaters nach oben. Denn oben, auf die Stadsschouwburg draufgesetzt und weiter als Verlängerung an das Gebäude angefügt, findet sich eine Art Salle modulable. Letztes Jahr, bei der 3-D-Oper «Sunken Garden» von Michel van der Aa, war der Rabozaal ein gewöhnlicher Theaterraum mit Orchestergraben und Bühne. Dieses Mal sind die Sitzplätze im Rund angeordnet, agieren die Darsteller auf einer Drehbühne im Zentrum und wirkt das Instrumentalensemble auf einem Podest am Rand. Steile Rampen führen mitten unters Publikum, über den Köpfen schweben grosse transparente Leinwände, auf denen man sich selber und die anderen beobachten kann, weil in der Mitte an einer sich langsam drehenden Säule eine ganze Anzahl Videokameras befestigt sind. Weitere Kameras werden von Menschen bedient, und da kommt es im Verlauf des Abends zu Virtuosenstücken eigener Art: dann nämlich, wenn eine Kamera transportiert wird und eine Assistentin geduckt, einer geschmeidigen Tigerin gleich, das Kabel hinterherträgt.

Das Edle und das Banale

Ach ja, Multimedia im Musiktheater, einmal mehr. Falsch: Dieser Abend gehörte zum Interessantesten und Amüsantesten, was in der jüngeren musiktheatralischen Vergangenheit erprobt worden ist. Kein gesuchter Konstruktivismus, kein Bierernst, auch keine Blödheit. «Laika» nennt sich das Stück, und schon das führt in die Irre, denn um Laika geht es ganz und gar nicht. Schon eher geht es um Mayonnaise. Tatsächlich? Ja, um «ma-ma-ma-ma-Mayonnaise». Was Mozart in der «Zauberflöte», was dem armen Papageno mit dem Schloss vor dem Mund recht war, sollte dem Komponisten Martijn Padding, geboren übrigens 1956, billig sein. So besingt denn der TV-Starkoch Ricardo (Marcel Beekman), während er an seinem mobilen Edelstahl-Küchentisch Gemüse schneidet, die französische Konkurrenz zur Sauce hollandaise. Was kein schlechter Witz ist, geht es dem Komponisten und seinem Librettisten P. F. Thomése in der Oper «Laika» doch explizit darum, das Hohe und das Tiefe, das Edle und das Banale direkt nebeneinanderzustellen. Wie es im Leben auch der Fall ist.

Die durchaus linear erzählte, aber vielfach gebrochene Geschichte handelt von dem Fernsehmoderator Robbert (Thomas Oliemans), der ein Star ist wie der Koch an seiner Seite, der aber entschieden genug hat von seiner Rolle. Auch von dem Getue im Fernsehstudio, von der Trix Dominatrix (Claron McFadden), dem omnipräsenten Produzenten mit seinem iPad (Mattijs van de Woerd), der aufdringlichen Stylistin mit ihren Pinselchen (Marieke Steenhoek). Er nimmt Kontakt auf mit einem Ausserirdischen: mit Juri Gagarin, dem er sich anschliesst, nicht ohne das Fernsehstudio vorher zerstört zu haben. Trickreich ist schon die Vorlage, doch wie sie präsentiert wird, hat es in sich.

So wie die minimalistisch angehauchte Musik, deren instrumentaler Teil vom Asko- und Schönberg-Ensemble unter der Leitung von Etienne Siebens vital dargebracht wird, mit Anspielungen arbeitet, so vermischen sich im Szenischen die Wahrnehmungsebenen – werden Zuschauer am Bühnenrand mit einem Mal zu Chorsängern und agiert Helena Rasker mit ihrem herrlichen tiefen Alt als Mutter mitten unter uns. Unerwartet tritt sie gegen das Blech, das am Boden befestigt ist – da sitzt der Schreck tief. Das Stück erfindet die Oper nicht neu, nimmt in der Produktion von Aernout Mik die Gattung aber verschmitzt auf die Schippe.

«Falstaff» im Scala-Stil

Die Innovation, das ist das Feld, das Pierre Audi in den zehn Jahren an der Spitze des Holland Festival mit besonderer Liebe bestellt hat. In den Konzerten gibt es viel Neues, viel Aussereuropäisches: Anregungen noch und noch. Das Hergebrachte wird darob nicht vernachlässigt. Dieses Jahr brachte Audi, der ja auch die Niederländische Oper leitet, Verdis «Falstaff» in einer Inszenierung von Robert Carsen ins Amsterdamer Muziektheater. Mit ihren mächtigen Dekorationen und ihrem derben Witz gab sie sich als Produkt des globalen Opernbetriebs zu erkennen – tatsächlich ist die Produktion für die Covent Garden Opera London und die Mailänder Scala entworfen worden. Einen «Falstaff» einmal mit einer italienischen Besetzung zu hören, ist natürlich ein Genuss – oder wäre es geworden, wenn die Sänger etwas zivilisierter zu Werk gegangen wären. In der Titelpartie röhrte Ambrogio Maestri derart anhaltend, dass die Gewichte aus dem Lot gerieten, und am Pult des Koninklijk Concertgebouworkest Amsterdam unternahm Daniele Gatti rein gar nichts dagegen. Immerhin, zwei Lichtpunkte gab es. Lisette Oropesa und Paolo Fanal versahen das junge Liebespaar Nannetta und Fenton mit einer Leichtigkeit sondergleichen.