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Anne Sofie von Otter ( hier bei der Probe) steht ab Montag, 16.9., als Baba the Turk in "The Rake's Progress" auf der Bühne des Theaters an der Wien.

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Dirigent Michael Boder.

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Wien - Er ist klein, feingliedrig, freundlich; mit der rau-warmen Stimme eines langjährigen Nikotinfreunds beantwortet er die Fragen präzise und knapp. Seit fast zwei Jahrzehnten kann man Michael Boder in Wien an der Staatsoper erleben, der Deutsche dirigierte dort Wagner, Strauss, Alban Berg und natürlich die zwei Uraufführungen von Friedrich Cerha (Der Riese vom Steinfeld, 2002) und Aribert Reimann (Medea, 2010). Nun ist der 54-Jährige erstmals im Theater an der Wien zu erleben, bei der musikalischen Neuproduktion von Igor Strawinskys einziger abendfüllender Oper, The Rake's Progress.

Gläserne Akustik

Wie war die Umstellung und Einstellung auf die feine, gern als "gläsern" beschriebene Akustik im Theater an der Wien? "Man hört hier wirklich alles, was passiert, sehr genau", bestätigt Boder. "Das macht es für uns alle nicht leicht, aber das ist auch sehr schön. Und das Gläserne der Akustik hier kommt diesem feinen, kammermusikalischen Stück entgegen. Es ist ja selbst wie eine Arbeit aus Muranoglas - und wurde ja auch in Venedig uraufgeführt." Doch Boder besetzt die Ersten Geigen immerhin elffach: "Es ist manchmal doch besser, wenn mehr Musiker etwas leiser spielen als wenige laut."

Der Dirigent sieht das kurz nach dem Zweiten Weltkrieg entstandene Werk als Solitär: "Es hat keine Vorgeschichte und fast keine Nachkommen. Hans Werner Henze hat vielleicht ein bisschen so gearbeitet. Wenn man die Musikgeschichte als Baum sieht, dann ist dieses Stück ein Apfel, der ganz allein und weit draußen an einem Ast hängt. Nur Debussys Pelléas et Mélisande steht in ähnlicher Weise für sich allein da."

Die neoklassizistische Musik Strawinskys und die kleinteilige Struktur des Werkes erfrischen und unterhalten vorzüglich - empfindet der Sohn eines Sängers das auch so? "Auf jeden Fall. Strawinsky spielt brillant mit unseren Hörgewohnheiten und führt uns immer wieder aufs Glatteis. Obwohl es ein durchaus drastisches Stück ist, liegt darüber eine ironische Brechung. Die Musik ist tonal gedacht, aber mit der Tonalität wird etwas anderes erzählt als gewohnt. So als würde man gegenständlich malen und gleichzeitig abstrakt denken." Strawinsky habe mit diesem Stück eigentlich die ganze Alte-Musik-Bewegung vorweggenommen - indem er sie einfach selber komponiert habe. "Aber da ist auch sehr viel Mozart, es ist sehr viel Jazz, es gibt Barbershop-Harmonien ... Aber Strawinsky collagiert diese Stile nicht, er erfindet sie immer neu."

Die Inszenierung von Martin Kusej, die 2008 Premiere hatte, wurde damals musikalisch von Nikolaus Harnoncourt geleitet, der die Wiener Symphoniker dirigierte. Die jetzige Aufführungsserie mit dem RSO Wien - "es ist dem Werk von der Spieltradition her vielleicht näher" - ist daher für Boder "wie eine komplett neue Produktion - wir haben zum Teil ja auch neue Sänger." Wurden die eigentlich von ihm vorgeschlagen und ausgesucht? "Nein, das macht Herr Geyer. Und er macht das ziemlich gut."

Wenn man wie Boder Uraufführungen von hochkomplizierten Großwerken von Eötvös und Co geleitet hat, ist dieser Strawinsky für ihn dann nur noch eine leichte Fingerübung? "Nein! Es ist Herausforderung ganz anderer Art. Es geht um so viele Details ... Das vermeintlich Leichte ist ja, siehe Rossini, ziemlich schwer - man darf das nur nie hören! Und die Stilimitate funktionieren nur, wenn sie ganz eindeutig und in einer Millisekunde hergestellt werden. Das muss sitzen."

Martin Kusej hat in seiner Inszenierung des kapitalismuskritischen Werks Tom Rakewell als White-Trash-Mitglied gezeichnet, das mediales und reales Junkfood konsumiert: Wie findet Boder diese Deutung? "Klug. Ich finde, es funktioniert. Da stehe ich dahinter." War Kusej bei den Proben eh auch da? "Er war da. Sein Assistent hat alles sehr gut vorbereitet, aber er kam dann auch."

Neue Opern im Norden

Boder war im Laufe seiner langen Karriere auch in leitenden Positionen an Opernhäusern tätig, von 2008 bis 2012 als Musikdirektor des Gran Teatre del Liceu in Barcelona, seit 2012 ist er Chefdirigent der Oper Kopenhagen.

Wie sieht er die Situation der Opernhäuser in Europa? "Es hat sich im letzten Jahrzehnt in der Opernlandschaft Europas eine Volte vollzogen: Der Süden, der traditionell stark war, ist eingebrochen, und stattdessen werden im Norden, in Kopenhagen, in Oslo, neue, leistungsstarke Opernhäuser gebaut - was hier noch gar nicht so richtig wahrgenommen wird." (Stefan Ender, DER STANDARD, 13.9.2013)