"Es geht uns nicht um einen blinden Dienst an der Partitur": Die Regisseure Patrice Caurier (li.) und Moshe Leiser.

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Daniel Ender sprach mit dem Duo über Komödien, Tragödien und die Arbeit als Operntandem.

STANDARD: In Ihren Arbeiten zeichnen Sie oft drastische Bilder von Störung und Zerstörung, Rossinis Oper "Le Comte Ory" ist aber eine Komödie. Gehen Sie anders heran als an eine tragische Handlung?

Patrice Caurier: Nein. Wir versuchen wie immer, das auf die Bühne zu bringen, was aus der Partitur hervorgeht. Das heißt natürlich so, wie wir es empfinden, zusammen mit den Sängern und dem Dirigenten.

Moshe Leiser: Natürlich ist es meistens eine größere Herausforderung, eine Komödie zu inszenieren, weil es immer schwerer ist, Menschen zum Lachen zu bringen.

STANDARD: Also gibt es schon einen Unterschied in Ihrem Zugang?

Leiser: Natürlich gibt es Unterschiede zwischen Komödie und Tragödie - vor allem darin, worüber man lacht. Wenn jemand über eine Bananenschale stolpert, kann man darüber lachen oder weinen. Das hängt nur vom Blickwinkel ab. Vor allem in der Oper gibt es die Meinung, dass man alles machen kann, wenn es "nur" eine Komödie ist. Wir glauben hingegen fest daran, dass die Komödie die höchste Form des Theaters ist und genauso fordernd wie andere Theatergattungen. Insofern muss hier besonders präzise gearbeitet werden: im Timing, im Dialog mit der Musik, wo die Szene manchmal mit-, manchmal dagegenarbeitet und manchmal einen Kontrapunkt bildet.

STANDARD: Sie haben eingangs gesagt, Ihnen ginge es immer darum zu zeigen, "was aus der Partitur hervorgeht". Bei Ihrer eher kontrovers aufgenommenen Inszenierung von Händels "Giulio Cesare" bei den Salzburger Pfingstfestspielen hegten einige Zuschauer durchaus Zweifel an dieser Ihrer Absicht.

Leiser: Es geht uns nicht um einen blinden Dienst an der Partitur. Aber alles, was die Sänger machen, soll etwas damit zu tun haben, was sie gerade singen. Bei Comte Ory geht es vor allem um sexuelle Frustrationen und um die Befreiung von ihnen. Und bei Giulio Cesare wird die Gewalt auf der Welt verhandelt. Wir leben Jahrhunderte nach Händel, die Gewalt hat sich einfach sehr geändert. Wenn man so einem Stück gerecht werden möchte, muss man das berücksichtigen.

STANDARD: Wie Händel hat auch Rossini dieselbe Musik für unterschiedliche Handlungen recycelt, für "Comte Ory" etwa wurde ein Großteil aus einer anderen Oper wiederverwertet. Wie lässt sich dann überhaupt konkretisieren, was die Musik aussagt?

Caurier: Das ist das Großartige an dieser Musik: dass dieselbe Melodie für einen ganz anderen Zweck und mit einem anderen Text verwendet werden kann. Man muss sich entscheiden. Aber diese Musik gibt den Interpreten - sowohl den Musikern als auch den Regisseuren - eine große Freiheit.

Leiser: Wir versuchen bei jeder Inszenierung, eine Perspektive gegenüber dem Stück einzunehmen. Unsere erste Frage ist daher immer, welche Struktur ein Werk hat und worin es in ihm geht. Es gibt bei uns auch keine Ästhetik, die wir allen Stücken überstülpen, die wir machen. Die Ästhetik muss für jede Oper eine andere sein. Ich habe nicht für eine Sekunde das Gefühl, von der Musik eingeschränkt zu sein. Sondern wir versuchen, die Musik so zu inszenieren, dass das, was sie aussagt, zu den Seelen und Herzen des Publikums vordringt - hoffentlich. Das meinen wir damit, die Partitur zu inszenieren.

STANDARD: Es gibt also in Ihrem Arbeitsprozess idealerweise immer einen Punkt, wo Sie den Schlüssel für Ihre Interpretation finden. Wie war dieser Vorgang bei "Comte Ory"?

Leiser: Diese Oper ist eine wunderbare Geschichte über die menschliche Gesellschaft. Grundsätzlich geht es darum, dass sich die Männer im Krieg befinden; die Frauen bleiben mit ihrem Keuschheitsgürtel zu Hause. Sexuelle Gefühle sind absolut verboten. Ory ist ein Deserteur, der vor allem für sexuelle Freiheit steht. Es geht also um Sexualität, Religion, Moral, Vaterlandsgefühle. Wir zeigen das im Zusammenhang mit den 1960er-Jahren, weil in dieser Zeit in so vielen Ländern die alten Werte infrage gestellt wurden. Vor allem hat uns dabei natürlich die sexuelle Revolution des Jahres 1968 interessiert.

STANDARD: Teamwork in der Regie ist - zumindest im Bereich der klassischen Oper - nicht allzu verbreitet. Wie darf man sich Ihre Zusammenarbeit vorstellen?

Caurier: Moshe inszeniert die rechte Seite der Bühne und ich die linke. (lacht) Wir machen das schon so lange - dreißig Jahre -, dass ich gar nicht mehr weiß, was ich darauf antworten soll.

Leiser: Da müssten Sie eher die Sänger fragen, die wissen das besser. Bei uns ist das nach so langer Zeit schon ein automatischer Vorgang. Manchmal ist der eine mehr auf der Bühne und der andere im Zuschauerraum, um den Überblick zu haben. Aber letztlich ist es immer eine gemeinsame Arbeit - auch mit dem ganzen Team.

Caurier: Vor allem auch mit dem Dirigenten und den Sängern, weil es uns eben um die Musik geht.

Leiser: Genau. Es gibt eine starke Tendenz in der Regie, zu sehr auf das Libretto zu achten und darüber einen Metadiskurs zu führen, während die Musik ignoriert wird. Beide: Das ist uns völlig fremd.

STANDARD: Ist es Ihnen ebenso fremd, die Geschichte zu ignorieren, die das Libretto erzählt?

Leiser: Wir sind Geschichtenerzähler. Wir möchten weder die Story eliminieren, noch klüger sein als der Komponist, nur um zu zeigen, wie clever wir sind. Das war nie unsere Absicht. (Daniel Ender, DER STANDARD, 14.2.2013)