Frankfurt: „Tannhäuser“, Richard Wagner

Tannhäuser als Geschichte unterdrückter Homosexualität? Eine Verlegung der Handlung an eine amerikanische (!), katholische (!) Universität (!) in den späten 1950er (!) Jahren? Die Skepsis war groß, als der Regisseur in Pressegesprächen sein Regiekonzept vorstellte. Auch die Begründung für eine derartige Umdeutung schien weit hergeholt und reichlich verkopft zu sein: Oscar Wilde habe den Tannhäuser als seine Lieblingsoper bezeichnet und seine eigenen biographischen Brüche in dem zerrissenen und wegen verbotener sexueller Begierden aus der Gesellschaft ausgestoßenen Protagonisten wiedergefunden. Außerdem gebe es da noch Ludwig II. und Wagners Sohn Siegfried mit ihren homosexuellen Neigungen und ihrer Vorliebe gerade für dieses Stück.

Dann geschieht das Unerwartete: Wenn sich zur Ouvertüre der Vorhang hebt, schlägt einer der spannendsten und berührendsten Opernabende seit langem die Premierenbesucher in den Bann, reißt sie bereits zu den beiden Pausen zu kräftigem Beifall und Bravorufen hin und mündet in einem triumphalen Schlußapplaus, in dem beim Auftritt des Produktionsteams in den Jubelstürmen nicht ein einziges kleines Buh zu hören ist.

© Barbara Aumüller

Regisseur Matthew Wild hat viel gewagt und alles gewonnen. Er führt seinen Titelhelden zu Beginn über eingeblendete Zeitungsschlagzeilen als deutschen Schriftsteller ein, der vor den Nazis ins amerikanische Exil geflohen ist, dort für seinen Roman „Montsalvat“ den Pulitzer-Preis erhält und als Professor an einer Universität lehrt, bis er spurlos aus der Öffentlichkeit verschwindet. Der „Venusberg“ ist in dieser Deutung ein innerer Rückzugsort, in welchem der Autor seiner homosexuellen Neigung mit einem jungen Studenten nachgibt, zugleich aber unter Zuhilfenahme von Drogen um Inspiration für ein neues Werk ringt. Venus erscheint hier in schlichtem weißen Gewand und mit Totenschädelmaske weniger als Verführerin, denn als Muse, dabei schon das Ende vorausnehmend, daß Erlösung nur der Tod bringen wird. Drei Quader sind dazu nebeneinander aufgebaut mit der identischen Ausstattung eines Schlafzimmers in authentischem 50er-Jahre-Design. In Traumsequenzen interagieren Tannhäuser und zwei Doppelgänger darin mit mythologischen Figuren, Amor, Bacchus, Ganymed, dem Heiligen Sebastian und anderen, deren Darstellungen homoerotisch konnotierte Werke etwa von Michelangelo und Caravaggio zitieren. Dabei handelt es sich bei diesen von Tänzern dargestellten stummen Figuren nicht um willkürliche Zutaten der Regie. Vielmehr sind sie angelehnt an die Szenenanweisungen Wagners, der hier das bunte Treiben von „Bacchanten, Faunen, Satyren und Jünglingen“ vorsieht. Es gibt so viel zu sehen in den drei parallelen Räumen, daß man von der Ouvertüre abgelenkt werden könnte, wenn diese nicht von Thomas Guggeis mit einem Orchester in Hochform in selten gehörter Frische und Klarheit dargeboten würde. Der junge Generalmusikdirektor vermag es, mit seinen Musikern jedes noch so kleine Detail herauszuarbeiten, die großen Zusammenhänge aber nicht aus dem Blick zu lassen und dabei einen ungemein lebendigen und farbigen Klang zu erzeugen. Mit nie nachlassender Aufmerksamkeit bestimmt diese Haltung die Darbietung bis zum Schluß, vereint eine hörbar tiefe Durchdringung der Partitur mit einem wie selbstverständlich wirkenden musikalischen Fluß. Gegeben wird die Wiener Fassung mit im Vergleich zur Erstfassung reiferer Harmonik und Orchestration. Was hier aus dem Orchestergraben tönt, widerlegt einen vielzitierten Ausspruch Wagners am Ende seines Lebens: „Ich bin der Welt noch einen Tannhäuser schuldig.“ Nein, das Werk ist vollendet, wie es ist, man muß es nur zu spielen wissen. Der stark geforderte Chor liefert dazu Pilgergesänge in makelloser Homogenität und Einsätze als Wartburggesellschaft von mitreißender Wucht. Chorleiter Tilman Michael verabschiedet sich mit dieser Arbeit von seinem Frankfurter Stammhaus und demonstriert, warum die Met in New York ihn abgeworben hat (die Frankfurter Sprachregelung lautet: „ausgeliehen hat“, aber man sollte nicht darauf hoffen, daß Michael bei einem derartigen Karrieresprung in einem Jahr auf die ihm eingeräumte Rückkehroption zurückgreift).

A Single Man: Marco Jentzsch (Tannhäuser) / © Barbara Aumüller

Marco Jentzsch ist als Intellektueller Heinrich von Ofterdingen (Tannhäuser) optisch perfekt gecastet. Mit Anzug und Hornbrille erinnert er an Colin Firth als lebensmüder College-Professor in dem Film „A Single Man“. Der Regisseur verrät im Programmheft, daß tatsächlich der dem Film zugrundeliegende Roman von Christopher Isherwood ihn zu der Figur inspiriert hat. Darstellerisch verleiht Jentzsch dem Regiekonzept Glaubwürdigkeit, zeigt sehr eindringlich einen gebrochenen Charakter zwischen mühsam unterdrücktem Begehren und der Sehnsucht nach gesellschaftlicher Anerkennung. Stimmlich unterstützt er dieses berührende Porträt mit intensiver Textgestaltung. Seine Disposition entspricht dabei nicht dem von Tonträgern gewohnten Typus eines Wagner-Heldentenors mit baritonaler Grundanlage und daraus entwickelter metallischer Höhe. Aber: Wo gäbe es heute schon noch einen Sänger, der diesem Ideal entspräche? Seit dem allzu frühen Tod von Stephen Gould scheint dieses Fach nahezu verwaist zu sein. Jentzsch entwickelt seine Töne über die Kopfresonanz, was deutlich weniger kräftezehrend ist, verfügt dabei aber über ausreichend Volumen, um sich gegen ein Wagnerorchester durchzusetzen. Dem Venuspreislied zum Beginn hört man ein wenig die Anstrengung im durch großen Druck erzeugten Vibrato an. Die lange Romerzählung am Ende beeindruckt vor allem als gestalterische Leistung.

Von atemberaubender Wucht ist Christina Nilsson in ihrem Debüt als Elisabeth. Ihre Stimme besitzt ein jugendlich-frisches Timbre und dabei eine staunenswerte dynamische Bandbreite. In ihrer Auftrittsarie „Dich, teure Halle, grüß ich wieder“ flutet sie den Zuschauerraum mit vollem, wunderbar blühendem Klang. Selbst im leidenschaftlichsten Forte klingt die Stimme nie angestrengt, wirkt ihr Vibrato völlig natürlich. Den leiseren, zurückgenommenen Passagen mischt sie einen beinahe mädchenhaft-unschuldigen Ton bei, der perfekt zu ihrer Rolle paßt.

Christina Nilsson (Elisabeth), Marco Jentzsch (Tannhäuser) und Domen Križaj (Wolfram von Eschenbach) / © Barbara Aumüller

Geradezu balsamischen Wohllaut verströmt der Wolfram von Domen Križaj, ebenfalls ein Rollendebüt. Mit rundem, mild abgedunkeltem Ton läßt er ahnen, was Wagner mit „deutschem Belcanto“ gemeint haben könnte. Andreas Bauer Kanabas gibt mit seinem sonoren Baßbariton einen Landgraf Hermann von natürlicher Autorität. Beide sind in Matthew Wilds Inszenierung als Priester-Professoren gezeichnet, der Landgraf als Rektor der katholischen Universität. Diese trägt übrigens den Namen „Stella maris“, also „Meerstern“, ein Titel der Jungfrau Maria, welche ja von Tannhäuser beim Verlassen des Venusbergs angerufen wird („Mein Heil ruht in Maria“). An solchen Details zeigt sich, wie genau der Regisseur arbeitet, wie er trotz Transformation der Handlung eng und beziehungsreich am Text bleibt.

Der titelgebende Sängerwettstreit findet in einem Hörsaal statt. Vor der versammelten Studentenschaft treten die Lehrer gegeneinander in einem intellektuellen Wettbewerb an, neben Tannhäuser-Heinrich und Wolfram noch der von Magnus Dietrich mit strahlendem lyrischen Tenor herausragend gesungene Walther von der Vogelweide und Biterolf, den Erik van Heyningen mit kernigem Bariton gibt. Auch hier überzeugen lebendig und sogar humorvoll ausgearbeitete Details, etwa wenn die gegeneinander antretenden Professoren auf eingeblendeten Texttafeln mit ihren Lehrfächern und literarischen Hauptwerken vorgestellt werden und der Wettstreit als Sportereignis inszeniert wird, bei dem das von Wagner vorgesehene Bühnenorchester als amerikanische Blaskapelle immer wieder quer über die Bühne marschiert. Die vielen religiösen Bezüge und Beschwörungen Gottes in der Ansprache des Landgrafen passen bruchlos zum priesterlichen Leiter einer Universität. Und wenn Tannhäuser schließlich seine sexuellen Begierden offenbart, sich hier also outet, klingt die Entrüstung der Festgesellschaft genau so, als hätte Wagner eben dies gemeint. Auch war es nie sinnfälliger, wenn Elisabeth singt: „Was ist die Wunde eures Eisens gegen den Todesstoß, den ich von ihm empfing?“

© Barbara Aumüller

Zudem zeigt sich, daß das Bühnenbild von Herbert Barz-Murauer zusammen mit den Kostümen von Raphaela Rose nicht nur sehr gekonnt die gewählte historische Epoche heraufbeschwören kann, sondern auch akustisch geschickt konstruiert ist. Die aufsteigenden Ränge im Halbrund des Hörsaals reflektieren den Schall zum Zuschauersaal hin und bieten den Sängern die Möglichkeit, ohne Überdruck und Forcieren gegenüber dem Orchester zu bestehen, welches Thomas Guggeis zwar in den Konversationspassagen transparent und sängerfreundlich zurückhält, in den entscheidenden hochdramatischen Momenten aber saftig ausspielen läßt.

Der letzte Akt kommt dann nach den lebendig inszenierten Turbulenzen vor der gerundeten Mauer eines Universitätsgebäudes zur Ruhe. Die Regie nimmt sich hier klug zurück, bebildert das Vorspiel nicht, läßt Elisabeth ihr Gebet, Wolfram das Lied vom Abendstern und Tannhäuser seine Romerzählung ohne szenische Ablenkungen singen. Und da die Wiener Fassung gegeben wird, erscheint Dshamilja Kaiser als Venus erneut und überzeugt wie schon im ersten Akt mit gut durchgeformtem Mezzo. Die ihr von der Regie zugedachte Gestalt als Todesbotin schließt den Kreis zu den Bildern des Anfangs. Tannhäuser kann unter den obwaltenden gesellschaftlichen Umständen mit seiner sexuellen Orientierung keinen Frieden finden. Erlösung gibt es nur im Tod. In einer bei Wagner nicht vorgesehenen Wendung, die hier für kommende Besucher nicht verraten werden soll, findet die Produktion zu einem berührenden Abschluß.

Marco Jentzsch (Tannhäuser) und Dshamilja Kaiser (Venus) / © Barbara Aumüller

Zu berichten ist also von einem nahezu perfekten Gelingen: Ein ungewöhnlicher Regieansatz wird handwerklich souverän in eine spannende und emotional berührende Geschichte transformiert und von engagierten Darstellern hinreißend umgesetzt, deren herausragende Gesangsleistungen sich mit makellosem Chorgesang und einem hellsichtigen Dirigat zum idealen Gesamtkunstwerk formen. Gerade noch waren wir überzeugt davon, daß Nadja Loschkys Giulio Cesare der aussichtsreichste Anwärter für den Titel der „Aufführung des Jahres“ ist. Nun haben Matthew Wild und Thomas Guggeis mit ihrer Maßstäbe setzenden Zusammenarbeit einen neuen Favoriten ins Rennen geschickt.

Michael Demel, 29. April 2024


Tannhäuser und der Sängerkrieg auf Wartburg
Romantische Oper von Richard Wagner

Oper Frankfurt

Premiere am 28. April 2024

Inszenierung: Matthew Wild
Musikalische Leitung: Thomas Guggeis
Frankfurter Opern- und Museumsorchester