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Eine etwa 3 Meter hohe Taubenstatue, die wiederum auf einem etwa 4 Meter hohem Podest steht, thront im Dunkel. Sie wird von schräg links weiß angeleuchtet. Vor ihr steht der Bassbariton Adams. Eigentlich ein Mann von großer Statur, der im Schatten der Taube was mickrig aussieht.

Der stimmlich beeindruckende Robin Adams vor einer der größeren Tauben Adel Abdessemeds im Genfer Messiaen-Marathon. Foto: Carole Parodi

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Multireligiöser Bilderbogen ohne Mitte: Adel Abdessemed gestaltet Messiaens „Saint François d'Assise" in Genf

Vorspann / Teaser

Olivier Messiaens in den Kanon der Überlänge- und Leistungsschau-Blockbuster des Musiktheaters aufgeschossenes Mysterienspiel „Saint François d’Assise“ (1983) reiht sich an der Oper Genf zu „François“-Inszenierungen durch Opern-Neulinge wie den Architekten Daniel Libeskind in Berlin und Hermann Nitsch in München. Im nicht ganz vollen Grand Théâtre hielten fast alle durch. Zu den beiden Pausen leerten sich nur wenige Plätze und am Ende steigerte sich der Applaus nach minimalen Anschub-Handicaps zur Ovation, vor allem für Soli, Chor und Orchester. Der algerische Künstler Adel Abdessemed schuf einen korrekten Bilderbogen mit Überlänge, der Bassbariton Robin Adams triumphierte als imponierend starker François.

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Adel Abdessemed hat eine große Affinität zu Tauben. Zum Beispiel in seiner olivgrünen Aluminium-Skulptur „Die Taubenpost“ (2021) berühren zwei zärtlich ihre Schnabelspitzen, tragen aber Militärtornister. Jetzt inszenierte der 1971 geborene Algerier, der in Paris seine künstlerische Identität entdeckte und in der Schweiz bereits mehrere Ausstellungsprojekte präsentierte, sein erstes Bühnenstück inklusive Austattung und Kostüme: Die Genfer Erstaufführung des 260-minütigen Hybrid-Spirituals „Saint François d’Assise“. Auch Intendant Aviel Cahn hält das Hauptwerk von Olivier Messiaen geeignet für den die Grenzen des Machbaren streifenden Tummelplatz eines ambitionierten Künstlers. Die Synthese von geistlicher Oper und performativer Kunst verspricht zudem überraschende Sensationsanlässe. Diese Hoffnung erfüllte sich allerdings nur in Ansätzen.

Abdessemed holte Messiaens Heiligenfigur aus dem explizit christlich-katholischen Kontext heraus. So machte er François zum selbstbewussten Aussteiger, dem nichts Menschliches zwischen Artensterben und Klimawandel fremd ist. Die Überwältigung des Heiligen aus dem toskanischen Hochmittelalter durch religiöse Sehnsucht und spirituelle Entäußerung ist jetzt weniger ein katholisches als ein universelles Thema. Immer wieder fallen Projektionen auf hängende Bronzeplatten mit dem judäischen Davidstern. Nach der Heilung des mit an der Seele als am Körper darbenden Leprakranken (Aleš Briscein) erscheint fast dialektisch ein Genrebild mit sich pflegenden Frauen in einem Hamam, später sogar die Skizze einer Gekreuzigten: War das Maria oder Francescos spirituelle Lebensgefährtin Clara... Wollte Abdessemed behutsam optimieren, weil Messiaen außer dem von einer Sopranistin gesungenen Engel Frauenpartien in seiner Oper vorsätzlich ausschloss?

Kultursymbole, Monumente und Zivilisationsmüll

Ein prächtiges Bild reiht sich ans Andere, schnell fesseln wieder andere Farbreize. Im Bühnenraum erscheinen christliche, hebräische und islamische Glaubenszeichen, mit der Kamel-Attrappe bei Francois‘ Sterben auch Zeichen aus dem nordafrikanischen Kulturraum. Opulentes und manchmal ominöses Licht dringt aus überformten Bildern nach berühmten Renaissance-Urformen sowie einem Kirchen-Bau und einem Sakralbau-Innerem.

Klare Deutung dagegen erfährt François‘ mit schweren Stoffen behängte Bruderschaft. Als Zeichen für den Verzicht auf weltliche Güter schleppt sie sich dahin in Edelstoffen unter Plastiksäcken und Metallschrott. Nach François‘ Tod sind sie wie begraben unter diesem Zivilisationsmüll. Auf der Hinterbühne werden in voller Besetzung das Orchestre de la Suisse Romande, der Chor des Grand Théâtre de Genève und das Ensemble Le Motet of Geneva nicht nur Klangfarben, sondern auch ein ornamental bewegter Hintergrund. Vor allem der Chor (Leitung: Mark Biggins) leistet Außerordentliches. Im ersten Teil hatte Abdessemeds Bühnenvision neben Messiaens agiler Komposition einige Längen. Durch den Anschub von Chefdirigent Jonathan Nott, der später eine souveräne Spannungsarchitektur entwickelte, gelang Abdessemed dann doch die Verdichtung epischer Freiräume.

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Ein paar Männer stecken die Köpfe zusammen. Es ist ebenfalls tief dunkel auf der Bühne, im Kreis der Männer brennt ein Licht. Die Gestalten tragen diverse Reste jeglicher Herkunf als Kleidung. Eine in weiß gekleidete Frau auf einer Klappleiter beobachtet sie aus der Ferne.

François‘ Bruderschaft in „Ordensrobe“: Als Zeichen für den Verzicht auf weltliche Güter tragen sie „Zivilisationsmüll“. Foto: Carole Parodi

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Es ist in der Akustik des Grand Théâtre eine eher milde Überwältigung des Heiligen bei der Gotteserfahrung und in der Vogelpredigt. Immer wieder werden an diesem Abend Choreinwürfe zum Ereignis, fluten wie Tsunamis über das Orchester und Abdessemeds multireligiöse Raumnahme in das Auditorium. Nott setzt eher auf Weichheit denn das spitze Gleißen, mit dem Messiaen zutiefst schmerzhafte Seelen- und Läuterungsprozesse malte. Mit seinem intensiven Bildprogramm geht Abdessemed aber bewusst oder unbewusst über diese Schärfen Messaiens hinweg, bleibt deshalb einiges an Spannkraft schuldig. Die Besetzung mit einem internationalen Ensemble aus US-Amerika, Kanada, der Türkei, Tschechien und anderen Ländern bekennt sich zu Diversität, Vielfalt und Synergien.

Schmelzend dramatische Stimmen, stille Größe und viele viele Tauben

Der Bassbariton Robin Adams trägt die vokale Hauptast einer der längsten Musiktheater-Partien überhaupt. Adams hat als François die physische Statur eines Wotan oder Lear. Er inkarniert einen die Ekstase, die Spiritualität und den Tod mit aktiver Emphase herausfordernden Kämpfer zwischen Glaubensstärke, Gottsuche und Gottesgewissheit. Adams Stimme entwickelt mit und aus Messiaens Komposition einen packendem Angriff, dramatische Exaltation und am Ende schmelzende Kurz-Kantilenen. Damit macht er die Partie zur Klammer von Abdessemeds visuellem Pauschal-Rundumschlag. Nicht minder beeindruckend, mit apart dunklem Timbre und stiller Größe singt Claire de Sévigné den oft still durch den Raum wandelnden Engel. Die franziskanische Mönche-Crew ist durchdrungen von vegetativer Gesundheit und eine ihrem kräftigen Vorbild fast ebenbürtige Bruderschaft: Als Primus inter pares Kartal Karagedik (Léo) mit Jason Bridges (Masseo), Omar Mancini (Elio), William Meinert (Bernardo), Joé Bertili (Silvestro) und Anas Séguin (Rufo). Ohne den verstorbenen Meister glucken sie zusammen wie graue Tauben. Überhaupt kommen Tauben, egal welche Vogelstimme aus Messiaens Orchester klingt, im musikalischen Höhepunkt der Vogelpredigt häufiger ins Bild als alle anderen bunten Vögel – graue zuhauf und als Himmelsbote eine weiße sogar als Skulptur. Menetekel zum Artensterben?

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