Spanien – für viele Mitteleuropäer bis heute ein Land der Träume und Sehnsüchte: Volksfeste und Flamenco, Stierkämpfer, temperamentvolle Frauen und vieles mehr. Diese Hispanomanie war besonders unter den französischen Literaten, Künstlern und Musikern des späteren 19. und des frühen 20. Jahrhunderts weit verbreitet. Zu ihnen zählt auch Georges Bizet. In seinem Todesjahr komponierte er seine Oper Carmen, deren Vorlage eine Novelle von Prosper Mérimée bildet.

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Marina Viotti (Carmen), Saimir Pirgu (Don José) und Łukasz Goliński (Escamillo)
© Monika Rittershaus

Für einen Regisseur scheint es naheliegend zu sein, sich all dieser Klischees zu bedienen und ein fulminantes spanisches Sehnsuchtsland auf die Bühne zu bringen. Nicht so Andreas Homoki in seiner Neuinszenierung von Bizets Carmen am Opernhaus Zürich. Ausgangspunkt seiner Inszenierung bildet die Uraufführung des Werks im März 1875 an der Opéra Comique in Paris. Denn bei der Zürcher Carmen handelt es sich um eine Koproduktion mit der heutigen Institution der Opéra Comique, wo die Inszenierung bereits im vergangenen Jahr zu sehen war. Als Bühnenbild wählten Homoki und der Bühnenbildner Paul Zoller auch für Zürich den Bühnenraum des Pariser Saals. Dazu haben sie die echte, aus Ziegelsteinen und Stahlträgern bestehende Rückwand der Opéra Comique nachgebaut, vier Seitenwände eingefügt und einige Vorhänge montiert. Fertig.

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Natalia Tanasii (Micaëla)
© Monika Rittershaus

Dass der erste Akt vor einer Tabakfabrik in Sevilla, der zweite in einer zwielichtigen Schenke, der dritte in einer wilden Gebirgsgegend und der vierte vor den Mauern einer Stierkampfarena spielt, müssen sich die Zuschauer in ihren eigenen Köpfen zurechtlegen. Auf Requisiten wird weitgehend verzichtet; mit einem Haufen voll von Schmugglergut und Theaterschnee im Hintergrund ist der dritte Akt noch am deutlichsten lokal verankert. Vermutlich aus purer Angst, in die Fettnäpfchen eines klischeehaften Spanienbildes zu treten, erlegt sich Homoki für seine Carmen-Bühne ein allzu grosses Mass an Abstraktion auf: Das Stück spielt in einem leeren Nowhereland.

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Niamh O'Sullivan (Mercédès), Marina Viotti (Carmen) und Uliana Alexyuk (Frasquita)
© Monika Rittershaus

Kompensiert wird dieser Mangel durch viel Bewegung auf der Bühne und raffiniert arrangierte Gruppenszenen, für die der Ko-Regisseur und Choreograph Arturo Gama mitverantwortlich zeichnet. So bleiben denn nicht zuletzt die turbulenten Szenen mit dem Sängerensemble, dem professionellen Chor und dem beherzt auftretenden Kinderchor der Oper Zürich im Gedächtnis haften.

Grundsätzlich auf das Frankreich der Uraufführung verweisen die Kostüme von Gideon Davey. Die schaulustigen Männer, welche die Arbeiterinnen der Zigarettenfabrik begaffen, kann man als Vertreter der Pariser Aristokratie deuten. Die Schmuggler mit ihren Bérets könnten aus den französischen Pyrenäen stammen. Dass sich dann im vierten Akt das ganze Personal in heutigen Freizeitkleidern vor einem Fernseher der 1960er Jahre den Stierkampf Escamillos ansieht, wirkt da ziemlich daneben.

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Carmen
© Monika Rittershaus

Im skizzierten szenischen Umfeld erwartet man nicht, dass die Titelrolle des Stücks von einer feurigen Spanierin gespielt wird. Marina Viotti ist eine schweizerisch-französische Sängerin, die international bereits beachtliche Erfolge gefeiert hat und die nun in Zürich als Carmen debütiert. Dass sie für diese Rolle die Falsche ist, liegt nicht daran, dass sie keine Spanierin mimt, und schon gar nicht an ihren stimmlichen Qualitäten. Ihr Mezzosopran ist von einem geerdeten Timbre, und den unterschiedlichen Charakter ihrer Hits wie „L’amour est un oiseau rebelle” trifft sie instinktsicher. Ihr astreines Französisch in den gesprochenen Dialogen ist zudem eine Wohltat.

Aber als Darstellerin ist Viotti zu wenig verführerisch, keine Femme fatale eben. In den ersten beiden Akten, mit schwarzer Lockenperücke und rotem Stirnband versehen, versucht sie es zwar. Aber nach der Pause, wenn sie mit ihren echten Haaren quasi „zivil” auftritt, wirkt sie einfach zu sympathisch, zu wenig destruktiv, zu wenig dominant. Wenn sie im Schmugglerakt die Einladung ihres neuen Lovers zum Stierkampf annimmt und Don José den Laufpass gibt, wirkt das nicht allzu bedrohlich.

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Marina Viotti (Carmen) und Łukasz Goliński (Escamillo)
© Monika Rittershaus

Der Albaner Saimir Pirgu dagegen, der die Rolle des Don José im Repertoire hat, macht auch in Zürich grossen Eindruck. Sein Tenor klingt in allen Lagen fantastisch. Die Zerrissenheit zwischen Pflicht und Neigung, zwischen Liebe und Eifersucht stellt er überzeugend dar. Der dritte in diesem Liebesdreieck, der Escamillo von Łukasz Goliński, gefällt mit einer sonoren Baritonstimme, vermag der Rolle aber nur bedingt seinen Stempel aufzudrücken. Eine wohltuende Überraschung ist die Micaëla der Moldawierin Natalia Tanasii. Sie erscheint in ihrer Rolle nicht, wie in manchen Inszenierungen, als Landei und Mauerblümchen, sondern als selbstbewusste und unerschrockene Frau, die für den von ihr geliebten José gar keine schlechte Partie wäre. Unter den kleineren Rollen seien Niamh O’Sullivan und Uliana Alexyuk erwähnt, die als Carmens Freundinnen Mercédès und Frasquita immer wieder erfrischende Akzente setzen.

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Marina Viotti (Carmen) und Saimir Pirgu (Don José)
© Monika Rittershaus

Musikalisch steht die von GMD Gianandrea Noseda geleitete Aufführung auf einem hohen Niveau. Die Besonderheit von Bizets Carmen-Partitur ist, obwohl man dies vielleicht denken könnte, nicht so sehr das spanische Kolorit. Natürlich gibt es die Habanera, deren Melodie von einem spanischen Komponisten stammt, die Seguidilla mit ihren Flamenco-Rhythmen oder das immer wieder auftauchende Schicksalsmotiv, das von der „Zigeunertonleiter” abgeleitet ist. Doch die wirkliche Qualität dieser Oper liegt in den kontrastierenden Charakteren der einzelnen Musiknummern und in deren raffinierter Instrumentation. Und hier setzt der Dirigent an. Schon in der Ouvertüre lässt er die Philharmonia Zürich ihre klanglichen Trümpfe ausspielen, und in der Folge versteht er die Instrumentalschicht keineswegs nur als Klangteppich für Sänger und Chor, sondern als gewichtiges Medium der Deutung des fatalen Handlungsverlaufs auf der Bühne.    

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