Geld oder Liebe – dass die tiefsten Sehnsüchte des Menschen auch sein Unglück bedeuten können zeigt kaum eine Oper so eindrucksvoll wie Piotr Tschaikowskys Pique Dame basierend auf der gleichnamigen Novelle von Alexander Puschkin mit einem Libretto von Bruder Modest. In seiner neuen Inszenierung an der Deutschen Oper in Berlin schafft Sam Brown, basierend auf Ideen des 2021 verstorbenen Graham Vick, mit naturalistischem Bühnenbild einen librettotreuen Kostüm- und Kulissenschinken, der die Zeiten transzendiert.

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Sondra Radvanovsky (Lisa), Martin Muehle (Hermann) und Doris Soffel (Gräfin)
© Marcus Lieberenz

Pompöses Barockkleid hier, biederes Fünfzigerjahrekostüm dort, pelzbemützte und hermeshandtaschentragende Mütter und sowjetuniformparadierende Kinder: Zeitlos ist die Bühnenwelt, in der Brown seine Pique Dame verortet. In ihr ist Hermann nicht nur armer Außenseiter, sondern Zielscheibe gesellschaftlicher Anfeindungen, der körperliche wie seelische Gewalt von Kindern wie Erwachsenen erfährt. Maschinengewehr statt Plüschteddy: Sanft deutet Brown eine mögliche Vorgeschichte der Oper, den Ursprung der Liebesgeschichte von Hermann und Lisa an. War es das junge Mädchen, das als einziges Mitleid mit dem malträtierten Jungen hatte? Es ist eine der wenigen neuen Fragen, die der Regisseur in seiner Inszenierung aufwirft und eine mögliche Antwort auf Lisas schnelle Faszination mit dem jungen Mann gibt, für den sie schon nach dem vermeintlich ersten Treffen das bekannte Leben aufgeben will.

In der weiblichen Hauptrolle ist an diesem Abend Maria Motolygina, aufstrebende Sopranistin auf dem hauseigenen Ensemble, kurzfristig für die erkrankte Sondra Radvanovsky eingesprungen. Gefühlvoll mit glasklarer Stimme und passend zur Inszenierung kindlich naiv gestaltet sie ihr unverhofftes Rollendebüt als Lisa. Martin Muehle legt seinen Hermann heldentenoral statt schmachend-zweifelnd an. Das funktioniert insbesondere in der zweiten Hälfte, in der sich der Protagonist immer weiter in seine Wahnsinnigkeit zwischen Spiel und Leidenschaft hineinsteigert. Lucio Gallo als väterlich freundlicher Tomskij mit italienischem Charme, Karis Tucker als Polina mit dunklem Timbre und Thomas Lehman als schmachend-sonorer Fürst Jeletzkij ergänzen in den wichtigsten Nebenrollen die Sänger:innenriege.

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Dean Murphy, Martin Muehle, Doris Soffel und Sondra Radvanovsky
© Marcus Lieberenz

Sie alle werden jedoch scheinbar mühelos überstrahlt von Doris Soffel als Gräfin, die bereits vor der Premiere für Hanna Schwarz eingesprungen ist. Bereits vor zwei Jahren glänzte Soffel in der konzertant aufgeführten Pique Dame mit den Berliner Philharmonikern, nun zeigt sie auch szenisch ihr ganzes verführerisches Können. Elegant, eindringlich und immer mit dem gewissen je ne sais quoi wandelt Soffel als von früheren Zeiten berauschte Gräfin durch den Abend. Dabei verkörpert sie eine Bühnenpräsenz, die ihresgleichen sucht. In Browns Inszenierung ist die Geheimnisträgerin des vermeintlichen Kartenglücks keine grenzdemente Friedhofsblondine, sondern eine Frau in den besten Jahren, die am Ende dennoch beim erotischen Liebespiel mit dem jüngeren Hermann das Zeitliche segnet. Ein Coitus interruptus der besonderen Art und Anspielung an Puschkins Vorlage, in der Hermann nicht nur eine Beziehung zu Lisa in Betracht zieht, um das Kartengeheimnis zu lüften. Soffel gibt dieser „Venus von Moskau“ eine charmante Leichtigkeit kombiniert mit extravaganter Gravitas, die so selten zu finden ist.

Dagegen wirkte das feingliedrige Dirigat von Sebastian Weigle am Pult des Orchesters der Deutschen Oper eher zahm. Während die leisen Momente aufhorchen ließen, wird die dynamische Bandbreite von Tschaikowskys Komposition nur selten ausgekostet. So verklingen die Höhepunkte der fast dreieinhalbstündigen allzu häufig ohne durchschlagenen Impuls. Stimmgewaltig hingegen präsentierten sich Chor und Kinderchor der Deutschen Oper. Selbst das Opernballett bekommt insbesondere gegen Ende der Inszenierung einen bejubelten Auftritt, bei dem man sich eher an die Opernkolleg*innen aus der Behrensstraße, derzeit exiliert im Schillertheater, erinnert fühlt.

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Martin Muehle (Hermann) und Doris Soffel (Gräfin)
© Marcus Lieberenz

Es ist einer der wenigen regietechnischen Hingucker in Sam Browns trotz zur Orgie ausartendem Maskenball braven Inszenierung, die immer wieder von Szenen aus einer 1916 in Russland entstandenen Verfilmung von Puschkins Vorlage durchzogen ist. Die psychologische Frage nach dem Ursprung von Lisas und Hermanns Liebe ist schnell vergessen, ebenso seine gewaltvolle Ausgrenzung aus der Gesellschaft; erst spät erfährt man, dass Hermann womöglich eher Stalker denn potentielle Liebe des Lebens ist. War nun die (krankhafte) Liebe zu Lisa oder die Sehnsucht nach Geld seine Motivation? Die Antwort lässt Brown dennoch offen. So stürzt sich Lisa über das naturalistische Brückengeländer in den Winterkanal – und auch Hermann findet schließlich sein bekannt fatales Ende am Spieltisch. Ein solider Opernabend in schönen Kulissen, der Soffels Venus-Stern hell funkeln lässt.

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