Rossini-Festspiele an der Wiener Staatsoper: Nach dem bunten wie überzeugenden Il barbiere di Siviglia gerät die überfällige Wiederaufnahme von Guillaume Tell zum Triumph. In Rossinis letzter Oper, einer französischen Grand opéra nach Friedrich Schillers Drama, brilliert eine großartige Sängerriege unter dem Dirigat von Bertrand de Billy, und die Inszenierung von David Pountney, 1998 noch kritisch beäugt, passt immer noch in die heutige Zeit. Im Rückblick ist darin einiges an Regiekniffen und Ausstattungsideen zu entdecken, die sich erst im Laufe der Nuller-Jahre an den Opernbühnen etablierten.

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Roberto Frontali (Guillaume Tell) und Maria Nazarova (Jemmy)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Die Abstraktion der Berge kann man mit den Landkartenbergen in Laurent Pellys Inszenierung von La Fille du régiment in Verbindung bringen, und das Spiel mit der Bühneneinrichtung en miniature hat zwanzig Jahre später, etwa bei David McVicars Les Troyens oder Keith Warners Der Besuch der alten Dame, nichts von seiner Wirkung eingebüßt. Wenn nun bei Pountney die Soldaten am Ende des ersten Aktes das Mini-Bergdorf mit ein paar Fußtritten über den Haufen werfen, ist das immer noch interessanter und überraschender als eine großformatige Aktion, für die das Kino ohnehin das bessere Medium ist.

In diese miniaturisierte eidgenössische Welt, die unter der Führung von Guillaume Tell nach Befreiung von der österreichischen Herrschaft strebt, sind zwei riesige Puppen in Tracht gestellt – sie könnten Verwandte jener Figuren sein, wie sie im Lungauer Brauchtum der Samsonumzüge noch heutzutage zu erleben sind. Auf der weiblichen Riesenfigur sitzt Hedwige, Tells Ehefrau, und auf der männlichen Melcthal. Beide stehen somit buchstäblich über dem Geschehen und greifen nicht ein, fungieren quasi als Kommentatoren. Allerdings kommt der Freiheitskampf durch Melcthals Ermordung (im Zuge der Dorfzerstörung) erst richtig in Gang, und endet nach insgesamt vier Stunden Belcanto mit der Tötung des tyrannischen Landvogts Gesler durch Tell, und einem großen Finale zum Lobpreis der schönen Schweizer Landschaft.

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Guillaume Tell
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Von der berühmten Ouvertüre bis zum erwähnten Schluss hört man exquisite Musik, die nach ebenso exquisiten Sängern verlangt. Die größte Leistungsschau lieferten an dem besprochenen Abend John Osborn als Arnold (Melcthals Sohn), und Lisette Oropesa als dessen adlige Geliebte Mathilde aus dem Feindeslager. Oropesa beeindruckte mit wunderbaren Höhen und blitzblanken Koloraturen – eine wahre Freude, ihr zuzuhören, zudem macht sie auch darstellerisch gute Figur. Osborn verfügt über einen idealen, höhensicheren Belcanto-Tenor und sorgte in seiner großen Arie „Asile héréditaire“ für Gänsehautmomente. Ihre Einzelleistungen übertrafen sie noch bei ihrem gemeinsamen Duett im zweiten Akt.

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Lisette Oropesa (Mathilde)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Ein Höhepunkt war auch das auf das daran anschließende Ensemble Tell/Arnold/Walter Furst. Die Stimmen passten im Terzett wunderbar zueinander und sorgten für einen perfekt ausgewogenen Klang. Als Walter zeigte Opernstudio-Mitglied Stephano Park nicht nur in diesem Trio eine tolle Leistung, und auch sein Opernstudio-Kollege Nikita Ivasechko als Leuthold machte mit seiner kurzen Partie nachhaltig Eindruck. Auch Evgeny Solodvnikov holte das Maximum aus seinem Auftritt als Melcthal am Schoß der erwähnten Riesenpuppe, während Monika Bohinec als Hedwige anfangs eine scharfe Höhe hören ließ, aber bald zu ihrer gewohnten Form fand.

Roberto Frontali in der Titelpartie beeindruckte weniger als heldenhafter Anführer denn als liebender und verzweifelter Vater, der seinem Sohn Jemmy (entzückend: Maria Nazarova) einen Apfel vom Kopf schießen muss. Der Urheber dieser Wahnsinnsidee ist Gesler, der von Jean Teitgen mit größter vokaler Autorität gestaltet wurde. Bestens assistiert wurde diesem Bösewicht von einem weiteren, nämlich Rudolphe (Carlos Osuna mit einer passend kantigen Darstellung des Soldatenführers).

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John Osborn (Arnold)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

In dieser Inszenierung wechseln Massenszenen mit kammerspielartigen Momenten, und das gesangstechnisch ohnehin geforderte Bühnenpersonal muss sich in wechselnden Kulissen zurechtfinden. Allerdings lohnt der Aufwand bei einem Stück dieser Größenordnung, denn nur mit Abwechslung wird man dem Format „Grand opéra“ gerecht, und der Abend trotz seiner Länge zu einer kurzweiligen Sache.

Die von Renato Zanella choreographierten Ballette tragen das Ihrige zum gelungenen Gesamteindruck bei, indem sie die Handlung und Stimmungen treffend kommentieren, und im ersten Akt fast Cartoon-artig zuspitzen. Besonders beeindruckend ist das Ballett im dritten Akt, mit dem Landvogt Gesler den hundertsten Jahrestag der österreichischen Herrschaft mit Gesang und Tanz feiern lässt. Der verschreckt-gebückte Tanz der Damen zeigt ganz deutlich, dass ihnen, den Unterdrückten, nicht zum Feiern zumute ist. Der anschließende brutale Marsch der Soldaten im Karree durch das Rund der Damen bestätigt die düsteren Vorahnungen eindrucksvoll und ist ein Geniestreich an Bühnenwirksamkeit. Auch die Choreographie der Auf- und Abtritte des gut einstudierten Chores (und Extrachores) ist wohldurchdacht, sodass das Geschehen stets im Fluss ist.

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Jean Teitgen (Gesler) und Carlos Osuna (Rodolphe)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Bertrand de Billy am Pult hat das Bühnengeschehen ebenso wie das Orchester im Griff, da passt jeder Einsatz, und auch die Abstufung der Tempi und Dynamiken überzeugt. Anders als bei Poulenc erweist sich seine Tempo-Strenge bei Rossini als Glücksfall, und auch dem Staatsopernorchester muss man ein Kompliment machen: Die für Rossini notwendige Spannung blieb den ganzen Abend über erhalten, und man hörte keine Ermüdungserscheinung, auch wenn das Stück die Instrumentalisten fordert. Den Jubel zum Schluss haben sich alle Beteiligten redlich verdient.

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