"La Juive" aktualisiert in Linz
Reinhard Winkler

Mit den Religionen ist das so eine Sache. Diese kuriosen, weltweit populären Wahnsysteme haben viel Gutes und einiges Schlechtes bewirkt – Letzteres sowohl systemintern als auch in Konkurrenz zu anderen Glaubensgemeinschaften. Die Oper La Juive etwa berichtet vom Terror, welcher Juden im Namen der katholischen Kirche angetan wurde. Und sie erzählt anschaulich, dass terrorisierte Menschen meist nur noch eines antreibt: Rache. Dieses konfessionsübergreifende Faktum macht La Juive gerade aktueller denn je.

Worum geht es konkret? Der Jude Éléazar wurde aus seiner Heimatstadt vertrieben, seine beiden Söhne wurden von Christen vor seinen Augen auf dem Scheiterhaufen verbrannt. In Konstanz zieht der Goldschmied erneut Unmut auf sich, denn Éléazar arbeitet an einem Feiertag.

Es droht der Tid

Ihm und seiner Ziehtochter Rachel droht die Verhaftung. Doch Kardinal Brogni, der ihn einst aus Rom verbannt hat, wendet die Inhaftierung ab. Éléazar beeindruckt die "verspätete Sanftmut" des Mächtigen nicht, er sinnt weiter auf Rache.

Es folgen weitere Schicksalsschläge für den Leidgeprüften: Rachel hat eine Affäre mit dem als Juden camouflierten Christen Léopold, beiden droht dafür der Tod. Die Tränen Rachels weichen Éléazars Eisblöcke des Hasses kurz auf, er willigt einer Heirat zu. Doch seine Geste des guten Willens ist sinnlos: Léopold hat schon eine Frau. Éléazars Zorn wächst erneut. Vor der gemeinsamen Hinrichtung mit der Ziehtochter kommen ihm noch einmal Zweifel: Éléazar könnte Rachels Leben retten, wenn er Brogni verrät, dass sie dessen Tochter ist, und dieser sie tauft. Doch die im Christenhass erzogene Rachel will Jüdin bleiben und geht lieber in den Tod.

Gigantische Glaubenskerker

In Linz ereignen sich die tragischen Geschehnisse in gigantischen grauen Glaubenskerkern und Machtträumen oder im kargen privaten Untergrund (Bühne: Dieter Richter). In Marc Adams Inszenierung von La Juive gibt es einige Ungereimtheiten: Existieren juristische Vergehen wie die "Blutschande" noch, wenn man wie der Franzose das Werk, das in Konstanz im 15. Jahrhundert spielt, in die westliche Gegenwart transferiert? Hat die katholische Kirche heute noch die Allmacht, wie sie der Konzilspräsident Brogni in La Juive hat?

In Linz hält der exzellente Chor am Ende des ersten Akts Schilder mit den Slogans "Remigration jetzt", "Stopp den Austausch" und "Lügenpresse" hoch. Das sind heute Schlagworte einer Minderheit, in der Oper stünde der Chor jedoch für die erdrückende Majorität der Konstanzer Bevölkerung.

Musikalisch feinfühlig

Musikalisch macht die Produktion schon mehr Sinn. Yannis Pouspourikas musiziert zusammen mit dem Brucknerorchester Linz feinfühlig, fächert die ganze Palette an Farben und Gefühlen auf, die Fromental Halévys Partitur zu bieten hat.

Die einst enorm populäre Grand Opéra von 1835 wird in Linz komplett aus dem (überschaubaren) Ensemble besetzt, das ist bemerkenswert. Okay: Erica Eloffs Sopran ist für die Titelpartie dann und wann etwas zu großkalibrig, aber ihr Furor und ihre physische Verve beeindrucken.

Sein ganzes Herz und natürlich auch seinen kraftvoll-eleganten Tenor legt Matjaž Stopinšek in die Partie des Éléazar. Er tobt, fleht und leidet, gerät bei den Pianostellen und dem einen oder anderen exponierten Ton an die Grenzen seiner Technik. Aber der Slowene wagt, und er gewinnt – die Begeisterung des Publikums.

Bis in höchste Höhen

Wie auch Ilona Revolskaya, die Léopolds Gattin Eudoxie mit ihrem goldglänzenden Koloratursopran verführerisch anlegt. Stimmstark und geschmeidig bis in höchste Höhen (das zweigestrichene d): SeungJick Kim als Fürst Léopold, solide Dominik Nekels Brogni. Vokal enorm potent und wie alle Sänger und auch das Regieteam bejubelt: Alexander York als Großvogt Ruggiero und Michael Wagner als Unteroffizier Albert.

Marc Adam lässt Éléazar am Ende übrigens überleben. Man ahnt: Sein Verlangen nach Rache wird durch die erlittenen Traumata nicht kleiner geworden sein. (Stefan Ender, 3.3.2024)