Es ist 1994 und im Autoradio des Cabrios von Juliette läuft Zombie von The Cranberries. Doch es ist nicht der besungene Konflikt in Nordirland, der die junge Veronesin beschäftig, sondern freilich die Feindschaft zwischen den Montagues und den Capulets. Marie-Eve Signeyrole hat Charles Gounods Oper Roméo et Juliette in dieser Inszenierung am MusikTheater an der Wien in die 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts versetzt – weichgezeichnete Softpornoeinlagen und Nirvana Grunge inklusive.

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Julien Behr (Roméo) und Mélissa Petit (Juliette)
© Monika Rittershaus

Die Idee ist nicht neu, und Leonardo DiCaprio spielt auch nicht mit, aber es funktioniert leidlich und gibt dem altbekannten Stoff, der von Gounod – zäh wie Strudelteig – über 3 Stunden 20 Minuten und in fünf Akten ausgeleiert wird, zumindest ein Quäntchen Überraschendes.

Folgerichtig nimmt Signeyrole das unausweichliche Suiziddrama der jungen Liebenden gleich im ersten Bild und noch während der Ouvertüre mit zwei Leichensäcken vorweg. Der Rest des Abends soll so zur leeren Leinwand werden, der vielleicht doch noch für den ein oder anderen erstaunten Aufschrei sorgen kann.

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Auf der Leinwand: Mélissa Petit (Juliette) und Brian Michael Moore (Tybalt)
© Monika Rittershaus

So ist Juliette in dieser Inszenierung keine unbedarfte 14-Jährige, sondern eine gelangweilte und reifere Femme fatale, die sich lieber sexuell ausleben möchte, als sich für elterliche Ehearrangements oder die Familienfeden zu begeistern.

Der von Jules Barbier und Michel Carré im Libretto verankerte Maskenball zu Begin des Stückes wird kurzerhand zum hedonistischen Gelage, wo jeder mit jedem und alle zusammen in goldenen Masken und Glitzerkleidern (und bald auch schon ohne) ihrer sexuellen Neigung nachgehen können.

Überhaupt läuft bei dieser Inszenierung wenig nach Plan. So wird Roméo schlussendlich auf dem Balkon warten und Juliette, rapunzelgleich, einen überdimensionierten Hochzeitsschleier nach unten werfen. Am Ende erleidet Juliette in der Garage ihres Cabrios den Erstickungsfreitod.

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Mélissa Petit (Juliette) und Julien Behr (Roméo)
© Monika Rittershaus

Das alles passiert auf der intelligenten Drehbühne aus eleganten Fertighausteilen von Fabien Teigné, die variabel mal zum Palast, mal zur Kirche, und mal zur Gruft kombiniert werden können. Nur eine weiße Linie am Boden und Gazevorhänge markieren die Grenzen der beiden Fraktionen. Warum das große Duell zwischen Tybalt und Mercutio, und dann mit Roméo zum Autorennen verkommt, erschließt sich jedoch nicht. Auch viele anderen Details in dieser Inszenierung können, jenseits des 90er-Jahre-Themas, dramaturgisch nur bedingt verankert werden.

Musikalisch wird der Abend von Kirill Karabits am Pult zusammengehalten. Er führt das ORF Radio-Symphonieorchester Wien gekonnt aber insgesamt eher farblos und verpasst die Chance, die vielen Zwischensequenzen zum echten akustischen Highlight auszuarbeiten. Anders kann da die Leistung des Arnold Schoenberg Chors bewertet werden, der sich nicht einmal vor der teilweise extrovertierten Choreographie scheut und sichtlich Spaß an den schillernden Kostümen hat.

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Mélissa Petit (Juliette), Leon Košavić (Mercutio) und Svetlina Stoyanova (Stéphano)
© Monika Rittershaus

Die Rolle des Roméo ist von Signeyrole eher klassisch angelegt und so überzeugt Julien Behr gerade in den dramatischen Passagen des zweiten Teils, bleibt sonst aber eher auf der sicheren Seite. Auch Mélissa Petit ist als Juliette jeglicher substanzieller Kritik erhaben. Klar, technisch brillant – insbesondere auch in den Höhen – und mit viel Mut zum Körperkontakt, projiziert sie in das blutjunge Objekt der Begierde eine reifere Weiblichkeit, die nicht ohne Charme bleibt. Gleichwohl hätte diesem Porträt vielleicht mehr stimmlicher Mut zu Ecken und Kanten gut getan. So wirkte es stellenweise fast klinisch entrückt. Im Gegensatz dazu schafft es Carole Wilson als Gertrude genau dieses gewisse Etwas jenseits der Partitur abzuliefern.

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Roméo et Juliette
© Monika Rittershaus

Beim Rest des Ensembles muss diese Kritik durchwachsen ausfallen. Brett Polegato war ein durchaus energischer, aber nicht immer ganz sicherer Capulet und Daniel Mirosław gibt seinem Frère Laurent einen eher hellen aber vielleicht etwas zu kantigen Bass. Auch Leon Košavić (Mercutio) und Brian Michael Moore (Tybalt) singen manierlich aber gehen im glitzernden Inferno an Eindrücken und Videoprojektionen eher unter.

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Julien Behr (Roméo) und Mélissa Petit (Juliette)
© Monika Rittershaus

Insgesamt ist es eine opulente Inszenierung, die weder groß provozieren möchte, noch eine neue Interpretation liefern kann. Die Besetzung ist solide und die Kostüme ganz fabelhaft. Wer ein Abo hat, fragt sich leider nicht zum ersten Mal, für welchen echten Mehrwert ein Kamera-Team auf der Bühne sorgen soll, während es immer noch kein Streaming-Angebot des MTadW gibt. Die überlagerten Großaufnahmen, wirken eher ablenkend als sinnstiftend, aber diese Diskussion geht wohl weit über diesen Abend hinaus...

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