Sechs leuchtende rote freistehende an Türrahmen erinnernde Elemente, eine dunkle Person mit Kapuze, rechts ein großer Bildschirm mit einem bläulichen Avatar-Gesicht, davor stehend die den Avatar mittels Facetracking darstellende Sängerin

Intelligenz von wem?

Dariya Maminova / Christiane Mudra: Beta

Theater:Deutsche Oper Berlin, Premiere:17.02.2024 (UA)Regie:Christiane MudraMusikalische Leitung:Elda LaroKomponist(in):Dariya Maminova

Dariya Maminova und Christiane Mudra zeigen ihr investigatives Musiktheater „Beta“ als Uraufführung in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin. Es geht um Nutzer:innendaten und die Gesellschaft als Betatester der digitalen Revolution.

Nicht die KI an sich ist gefährlich, sondern der Mensch dahinter. Das ist die große Message dieses Abends. Es gibt die Hackerin „Untitled“ (Maya Alban-Zapata) im typischen schwarzen Hoodieoutfit, eine Ministerin des Digitalen (Corinna Ruba) und einen Mark Zuckerberg-Verschnitt, ein Silicon Boy aus der idealen Tech-Welt (Simon Mantei). Morgens wacht er auf, assistiert von der KI Scarlett: „Vergiss nicht, deine Vitamine zu nehmen, Julian, heute hast du das körperliche Alter eines 21-Jährigen.“

Es geht um die Macht weniger Konzerne, die wir Normalsterblichen nur bedingt verstehen. Wie können diese international einflussreichen Big Player mit demokratischen Mitteln kontrolliert werden? Welche Inhalte werden uns auf unseren Endgeräten ausgespuckt und warum? Und: Wie beeinflusst das unsere Wahrnehmung? Es geht um den in unserer digitalisierten Welt rasant wachsenden und vielleicht mächtigsten „Rohstoff“ und den Umgang damit: Daten.

Für „Beta“ haben Regisseurin Christiane Mudra, Gründerin von investigative theater, und Komponistin Dariya Maminova eine 100-minütige, dichte Inszenierung auf der Basis einer langen Recherche entwickelt. Musiktheatral ist „Beta“ ein Hybrid aus Sprechtheater und gesungenen Partien. Alle Avatar-Figuren werden von Sänger:innen dargestellt, die Gesichtsbewegungen beim Singen werden getrackt und hauchen den dann auf großen Bildschirmen erscheinenden Avataren Bewegung ein.

Technisch-musikalisch fantastisch

Maminovas Komposition für Flügel/Cembalo, Elektronik, Violine, Viola, Kontrabass und Schlagwerk mischt digitalen und analogen Klang und Stile von Barock bis Pop. Spielweisen wie Flageolett oder Pizzicato empfinden akustisch einem elektronisch klingenden Sound nach. Das führt manchmal zu Gänsehaut, wenn die Avatare plötzlich menschlich scheinen und strengt dann an, wenn auch inhaltlich Informations- und Reizüberflutung Überhand nehmen. Schon beim Eintreten läuft das Publikum direkt an den spielenden Musiker:innen und Dirigentin Elda Laro – die spielerisch und exakt das starke Ensemble leitet – vorbei über die Bühne zu zwei auf beiden Seiten aufgebauten Sitztribünen. Der Raum ist abgedunkelt (Entwurf Bühne: Lina Oanh Nguyễn), sechs rot beleuchtete menschengroße Rahmen, Körperscanner, und Stroboskopeffekte sorgen für ein Eintauchen in eine digital dominierte Welt.

zwischen zwei menschengroßen roten Rahmen im Hintergrund ein großer Bildschirm mit einem Avatargesicht mit kurzen blonden Haaren, davor Ensemlbesänger Simon Mantei als Julian Zapp, schaut nach links obenAvatar Lou (Hye-Young Moon), Julian Zapp (Simon Mantei) © Thomas Aurin

Das Ensemble singt von verschiedenen Positionen auf der Bühne und zwischen den Zuschauer:innen. Der Avatar Scarlett (Oleksandra Diachenko) kommt mit einer musikalischen, manchmal fast poppigen Wohlfühlatmosphäre, passend zu einer perfekten Welt, in der automatisierte Technik unser Leben nur verbessern kann, eine Allround-Optimierung für unsere Vorstellung eines gesunden, nachhaltigen Menschenlebens. Lou (Hye-Young Moon) stellt den Avatar der Gegenseite dar, klingt abgehackter, prozessiert noch, teilweise in eigener Fantasiesprache, während die Hackerin versucht, das Big-Tech System zu sprengen. Musikalisch ist das durch Koloratur-Elemente dargestellt und erinnert an Barockoper, „copy, acquire, kill“ wiederholt Lou mantraartig immer wieder.

(Freie) Entscheidungsgewalt

Mit faustgroßen Abstimmwürfeln, die alle Zuschauer:innen vorab bekommen haben, werden sie ab und an aufgefordert, am Verlauf der Handlung mitzuentscheiden. Sind Sie für Wissenschaft oder Fiktion? Würden Sie eine App nutzen, die gleichzeitig Ihre Steuern erledigt und mit der Sie mit Ihrem Arzt chatten können? Mit „Ja“, „Nein“ oder „Enthaltung“ kann das Publikum abstimmen. Dabei ist die scheinbare Wahlmöglichkeit ein ironischer Bluff, das Ergebnis irrelevant – ein spöttischer Denkzettel an eine Gemeinschaft, die glaubt, demokratischen Einfluss auf eine digitale Welt zu haben, die sie nur im Geringsten überhaupt erfassen kann. Diese Warnungen vor der Macht nur weniger Monopole im digitalen Wettstreit ziehen sich durch den ganzen Abend. Die Hackerin wirft mit faktenbasierten Warnungen um sich und stößt bei der Ministerin nur auf Beton, hier ist die Politik vorerst in der Hand der Silicon Boys.

Sätze wie „Daten sind das Blut in den Adern der Welt“ bleiben hängen, aber auch der Mensch an sich: Was ist eigentlich ein Menschenleben? „Beta“ ist nicht nur Anti-Digitalisierungs-Botschaft, es geht auch um das wie und warum, den gesunden Menschenverstand dahinter, der von Instagram als „digitalem Schnuller“ vernebelt wird. „Deus est machina“ – nicht weil die Maschine selber denkt, sondern weil wir ihr und dem geringen Gesellschaftsanteil dahinter diese Macht auch verleihen. Das ist die Botschaft, die Mudra und Maminova mitgeben.