Paris, Opéra National de Paris - Bastille, BEATRICE DI TENDA - Vincenzo Bellini, IOCO Kritik

Das unglückliche Schicksal von Beatrice di Tenda, einer wahren geschichtlichen Figur, wurde zur Heldin von Vincenzo Bellinis (1801-1835) letzter Oper. Das Libretto von Felice Romani (1788-1865) ist inspiriert nach dem Drama von Carlo Tedaldi Fores (1793-1829) ....

Paris, Opéra National de Paris -  Bastille, BEATRICE DI TENDA - Vincenzo Bellini, IOCO Kritik
Opéra Bastille, Paris © Uschi Reifenberg

Vincenzo Bellini: BEATRICE DI TENDA (1833), Oper seria in zwei Akten, Libretto von Felice Romani nach Carlo Tedaldi Fores.

 von Peter Michael Peters

ZWISCHEN TEXTEN, KONTEXTEN UND VORWÄNDEN…

Ah! la morte a cui m’appresso

è trionfo, e non è pena.

Quai chi fugge a sua catena,

lascio in terra il mio dolor,

È del giusto al sommo seggio

Ch’io già miro e già vagheggio,

della vita a cui m’involo

porto solo – il vostro amor.

 (Szene der Beatrice / 2. Akt / letzte Szene /Auszug)

 

Ein tragisches Schicksal mit politischen Ambitionen…

Falsche Anschuldigungen, ungerechtfertigte Inhaftierung, brutale Folter und Todesstrafe: Das ist das unglückliche Schicksal von Beatrice di Tenda, einer wahren geschichtlichen Figur, die zur Heldin von Vincenzo Bellinis (1801-1835) letzter Oper wurde. Das Libretto von Felice Romani (1788-1865) ist inspiriert nach dem Drama von Carlo Tedaldi Fores (1793-1829). Es verschönert nicht im geringsten die grausame  Wirklichkeit und das Schicksal dieser klugen emanzipierten Frau in einer von Männern regierten mittelalterlichen Welt. Eine Oper, die 1833 am Teatro la Fenice in Venedig uraufgeführt wurde und zum großen Entsetzen des Komponisten völlig erfolglos blieb. Obwohl das Werk die kraftvollen Themen wie Gerechtigkeit und das Streben nach Freiheit mit einer Musik mit klaren und lyrischen Linien verfolgt. Auf den ersten Blick ähnelt das Schicksal den vielen Opern-Heldinnen, jedoch folgte es in Wirklichkeit dem Schicksal der echten Herzogin Beatrice Lascaris di Tenda (1372-1418). Als einflussreiche und souveräne Frau erleidete sie die brutale Gewalt ihres Ehemannes, der einen Plan inszenierte, um ihren politischen Ambitionen endgültig ein Ende zu setzen. Wer war die Frau, die wir weiterhin Beatrice nennen? Obwohl seit langem bewiesen ist, dass sie keine  Beziehung zum ligurischen Geschlecht der Herzöge di Tenda hatte? Beatrice stammte tatsächlich aus einer Familie des Kleinadels von Casals im südlichen Piemont, wo sie geboren wurde. Ihr Vater Ruggero Cane (?-1441) hatte den gleichen Namen oder Vornamen wie ihr zweiter Ehemann Facino Cane (1360-1412) und hatte ebenfalls eine Karriere in der Condottiere begonnen, ohne aber den gleichen Ruhm wie dieser zu erwarten. Dem Haushalt der Canes fehlte es jedoch an nichts! In Ermangelung  anderer  Erben ging das väterliche Eigentum an Beatrice über: Ein rundes Erbe, zu dem beispielsweise Häuser in Genua aber auch in Pavia gehörten. Was war mit Beatrices Kindheit? Sollten wir wie eine aktuelle Studie davon ausgehen, dass sie als Kind ihrem Vater auf seinen Condottiere-Streifzügen gefolgt wäre? Nichts davon ist bewiesen! Als Beatrice geboren wurde, kämpfte ihr Vater auf jeden Fall nicht mehr für die Stadt Genua und die Familie folgte ihrem Chef wahrscheinlich zumindest in die Städte, in die ihn der Dienst seines neuen Herrn gebracht hatte: Des Seigneur von Mailand, Herzog Bernabe Visconti (1323-1385). Somit residierten sie auf jeden Fall  für eine gewisse Zeit  in Reggio Emilia: Wo er 1374 zum Kapitän ernannt wurde!

BEATRICE DI TENDA - Opéra National, Paris - youtube Opéra national de Paris

 

Wir wissen nicht was als nächstes geschah, ist die junge Beatrice in Pavia aufgewachsen, wo sich ihr Vater ab 1389 niedergelassen hatte? Die Verbindungen innerhalb der großen Familien-Gruppe der Canes blieben jedoch sehr aktiv, da die Tochter von Ruggero um 1395 ihren Verwandten Facino heiratete. Dies war ihre zweite Ehe, was ihr etwas spätes Alter erklärte – zwischen zwanzig und fünfundzwanzig Jahren! Facino war etwa fünfunddreißig Jahre alt! Beatrices zweiter Ehemann ist also Facino, eine Person, die lange als Archetyp des gierigen und blutrünstigen Condottiere galt, deren Figur jedoch kürzlich eine Aufwertung erfahren hat. Beispielsweise wurde festgestellt, dass die Karriere von Cane in den letzten zwölf oder Fünfzehn Jahren seines Lebens aufhörte. Das ausschließliche Streben nach Profit war nicht mehr sein Hauptziel, jedoch baute er sich zwischen Genua und Mailand eine gewaltige territoriale Herrschaft auf: Die den Kapitän in den Rang eines der größten italienischen Herren seiner Zeit erhob! Infolgedessen war Facino am Vorabend seines Todes im Jahr 1412 sicherlich mächtiger und reicher als der Seigneur von Milan, Herzog Giovanni Maria Visconti (1388-1412), der älteste Sohn und Nachfolger von Herzog Gian Galeazzo Visconti (1351-1412). Wie es der Zufall wollte, starb der erste nach langer Krankheit wenige Stunden später bevor der zweite am 16. Mai 1412 in Mailand ermordet wurde. Etwas mehr als zwei Monate später, am 24. Juli 1412 heirate Herzog Filippo Maria Visconti (1392-1447), Bruder und Nachfolger von Giovanni Maria, neuer Herzog von Mailand: Beatrice Cane.

Beatrice di Tenda hier Szenenphoto - Quinn Kelsey (Filippo), Tamara Wilson (Beatrice), Pene Pati (Orombello) @Franck Ferville

Vermögen und politische Kunst als Mitgift…

Der Alters-Unterschied zwischen den beiden Ehepartnern war nicht gering: Beatrice war etwa zweiundvierzig, Filippo kaum zwanzig! Doch die Dame verfügte über andere Vorzüge, um ihren Mangel an Jugend auszugleichen. Sie war Facinos Allein-Erbin und das war keine Kleinigkeit! Der Cane hatte ihr alle seine Besitztümer hinterlassen, eine Reihe von Städten und Gebieten, die von seinen Truppen erobert worden wurden und deren Herr er bis zu seinem Tod blieb. Darüber hinaus umfasste ihre Mitgift eine riesige Geld-Summe, mehr als 400 000 Dukaten und was auch nicht weniger wichtig war: Eine gut ausgebildete und ausgerüstete hochmotivierte Truppe, die sich der Witwe ihres Anführers völlig ergeben hatte, da sie schon oft unter ihrer alleinigen Autorität unterstellt waren. Aber Beatrices Erfahrung und Fähigkeiten beschränkten sich keineswegs nur auf die Führung von Soldaten. Wenn es Facino in der Tat so leicht gelungen ist, innerhalb von nur zehn Jahren an einen so beträchtlichen Land-Besitz zu gelangen, so verdankte er dies zumindest teilweise einer glücklichen Aufgaben-Verteilung zwischen seiner Frau und ihm. Indem sie die Verwaltung der Städte und Gebiete übernahm, die unter die Herrschaft ihres Mannes kamen, ermöglichte Beatrice ihm alle seine Kräfte   für die Expansion seines Staates einzusetzen. Dabei hatte sie kostbare Erfahrungen gesammelt, man würde sogar sagen eine sogenannte Regierungs-Wissenschaft, die Filippo unbedingt nutzen wollte, wenn er seine Autorität über die Teile von Mailand wiederherstellen wollte, die nur nominell unter seiner Herrschaft geblieben waren. Dies war auf jeden Fall die Botschaft, die Facino ihm vermitteln wollte, als er auf seinem Sterbebett die Menschen um ihn herum daran erinnerte, dass Filippo mit seiner Zustimmung eine Frau heiraten würde: „Die alle Staats-Praktiken kannte“.

Zögerte Filippo vielleicht, denn er zeigte im allgemein keine große Interesse an Frauen?  Diese Frau zu heiraten? Die zwanzig Jahre älter war als er und einen gesellschaftlichen Rang hatte, der um ein Vielfaches niedriger war als sein eigener? Wir wissen es nicht, aber diese Heirat war notwendig für ihn, wenn er versuchen wollte die große katastrophale Situation seines verstorbenen Bruders Giovanni wiedergutzumachen! Tatsächlich gelang es dem neuen Herzog dank des Kapitals und der Truppen, die Beatrice ihm als Mitgift brachte, einen Großteil der von seinem Bruder verlorenen Gebiete zurückzugewinnen. Sechs Jahre später am 13. September 1418 wurde Beatrice und gleichzeitig mit ihr ein junger Mann namens Michele Orombello (1395-1418) hingerichtet, mit dem ihr eine unbewiesene ehebrecherische Beziehung vorgeworfen wurde.

BEATRICE DI TENDA hier Szenenphoto mit Quinn Kelsey (Filippo), Theresa Kronthaler (Agnese), Pene Pati (Orombello) @ Franck Ferville

Ehefrau, Rivalin oder Vormund…?

War Beatrice wirklich die Liebhaberin des Mannes, der vor ihren Augen hingerichtet wurde, wenige Minuten bevor sie selbst ihren Kopf auf den Block legte? Die Knappheit und Armut unserer Quellen hindern uns daran, diese Frage mit Sicherheit zu beantworten. Aber wenn wir uns an das Wenige halten, das sie uns geben, ist der Ehebruch von Beatrice noch lange nicht bewiesen. Tatsächlich haben wir nur vier wirklich nützliche Quellen. Zwei ihrer Autoren sind Zeitgenossen der Ereignisse von denen sie berichten! Der eine ist der Humanist Pier Candido Decembrio (1399-1477), dem wir die Biographie Vita di Filippo Maria Visconti (1447) verdanken, der andere ist der Augustiner-Bruder Andrea Biglia (um 1395-1435), der ein historisches Werk über Mailand Rerum mediolanensium historica  (14O2/1431) schrieb. Was Decembrio uns über Filippos Verhalten gegenüber Beatrice und ihre Verurteilung erzählt, ist wert zitiert zu werden: „Mit Beatrice, einer Frau von arrogantem und gierigem Charakter, zeigt er [Filippo] eine gewisse Zeit lang große Geduld, bis er sie in seinen eigenen Gemächern empfing, die Gerichte ass, die sie für ihn zubereitete und bereitwillig akzeptierte? Dass sie aber sofort seine Mahlzeiten mit ihm einnahm und sich gleichzeitig auch noch als seine Lehrerin benahm. Doch schließlich ließ er sie, nachdem er ihr durch Folter die Wahrheit erpresst hatte, wegen Ehebruchs verurteilen“. Lassen wir das alles für einen Moment beiseite, was uns diese kurze Passage über Filippos seltsame Beziehung zu seiner Frau erzählt. Jedoch konzentrieren wir uns nur auf den letzten Satz. Decembrio sagt uns zwei Dinge äußerst klar! Erstens, dass die gefolterte Beatrice den Ehebruch gestand und das auch der Richter sie nur deshalb verurteilte, da es ihm von Filippo befohlen wurde. Was Biglia betrifft, er hatte keinen Zweifel: Beatrice war unschuldig und die Geschichte vom Ehebruch wurde von Filippo erfunden, der ihre Ehe beenden wollte. Im Gefolge von Viscontis Frau befand sich, wie er uns erzählt ein gewisser Orombello. Dieser Junge Mann war ein guter Sänger, ein ausgezeichneter Musiker und auch ein angenehmer Gesprächs-Partner: Der sich „in der Kunst des Gefälligen“ sehr auszeichnete. Filippo wird schnell bewusst, welche Vorliebe seine Frau für den attraktiven jungen Mann zu haben scheint! Wie es der Zufall wollte, entdeckte man fast zur gleichen Zeit unter Beatrices Bett Geräte und / oder Substanzen: Die möglicherweise zur Herstellung eines Giftes bestimmt waren! Allerdings waren die Viscontis, zweifellos weil sie Gift im Laufe ihrer Familien-Geschichte häufig konsumierten: Gewissermaßen von diesen besessen! Dies war mehr als genug für Filippo, um die Verhaftung von Beatrice und dem jungen Orombello anzuordnen. Beide wurden in das Schloss der Viscontis in Binasco, etwa dreißig Kilometer südwestlich von Mailand gebracht, wo sie unter der Folter verhört und zum Tode verurteilt wurden. Dies ist die Version von Biglia!

Der erste der beiden noch zu erwähnenden späteren Autoren, Bernadino Corio (1459-1519) erzählt uns, dass zwei Hof-Kurtisanen kurz nach Beatrices Hinrichtung enthauptet wurden: Sie hatten gestanden das sie Beatrice „in der Gesellschaft von Michele gesehen zu haben, während er auf ihrem Bett sitzend die laute spielte“. Laut Corio hätte Beatrice zwar gestanden, nachdem sie vierundzwanzig Schläge mit der Peitsche erlitten hatte, hätte aber andererseits vor ihrem Beichtvater alles geleugnet. In seinem Werk Vite die dodici Visconti di Milano (1521) ergreift der Humanist und Historiker Paolo Giovio (1483-1552), der jüngste unserer Historiker, eindeutig die Partei für die Unschuld von Beatrice. Es ist wahr, dass zu der Zeit, als Giovio seine Vite… schrieb, Beatrice bereits in ganz Mailand und in der Lombardei als ein unschuldiges Opfer ihres grausamen Ehemanns erschien. Es ist daher wahrscheinlich, dass Filippo mit der Beschuldigung des Ehebruchs eine für ihn unerträgliche gewordene Frau loswerden wollte. Wir werden vielleicht in der oben zitierten Passage aus Decembrio den Ausdruck bemerkt haben, den dieser Autor verwendet hatte um die Rolle zu beschreiben, die Beatrice in den ersten Jahren ihrer Ehe hatte: „Sie verhielt sich“, schreibt er: „gegenüber Filippo wie eine Nachhilfe-Lehrerin“. Ein Begriff, der den Alters-Unterschied und die Zweideutigkeit der Beziehung zwischen Beatrice und ihrem Ehemann hervorhebt… Das gemeinsame Leben des Paares, sofern es überhaupt existierte, war tatsächlich nur von sehr kurzer Dauer. Sehr bald lebte Beatrice außerhalb von Mailand und folgte einer mittlerweile fast rastlosen Reise, die sie von einer Burg zur anderen führte und ihren Mann sah sie kaum noch. Dieser lebte zurückgezogen in seiner Burg Porta Giovia in der Nähe von Mailand. Wie hätte diese über vierzigjährige Frau, die keine Kinder von ihren ersten beiden Ehemännern hatte, noch für Nachkommen von Filippo erwarten können? Wir dürfen auch nicht die Homosexualität von Filippo vergessen, von der ein deutscher Chronist als von einer allen bekannten Tatsache spricht. In dem den Leibwächtern gewidmeten Kapitel beschreibt der Autor „sehr junge Leute von gutem Aussehen und grossem Charme [sehr attraktiv]“, die Filippo unabhängig von seinen Beschäftigungen ständig an seiner Seite haben wollte. Sie wechselten sich ab, schrieb er: Teilten seine Mahlzeiten, schliefen in seinem Bett und folgten ihm wo immer er sich befand und sie waren auch die einzigen: Die sich um seinen Körper kümmern durften! Aber es war zweifellos die imposante Persönlichkeit der Frau, die in drei Ehen einen gewaltigen sozialen Aufstieg erreicht hatte, die den Herzog von Mailand dazu drängte: Beatrice zu eliminieren! Als Decembrio sie als gierig und arrogant beschrieb, was wollte er damit sagen? Tatsächlich wurde die Herzogin von Mailand sehr stark kritisiert, weil sie eine politische Rolle spielen wollte!

BEATRICE DI TENDA hier Szenenphoto - Theresa Kronthaler (Agnese), Pene Pati (Orombello) @ Franck Ferville

Eine wirkliche Herrscherin…

Offenbar wurde Beatrice Erbe ihres zweiten Mannes recht schnell unsinnig vergeudet. Das als Mitgift eingebrachte Geld wurde zur Finanzierung der Militär-Operationen des Herzogs von Mailand und der Rückeroberung verlorener Gebiete verwendet. Der neuen Herzogin ist es aber versagt, in die Leitung des Söldner-Unternehmens ihres verstorbenen Mannes einzugreifen! Sie verlor auch sehr schnell das Recht, über die geerbte Herrschaft von Facino einen Einblick zu haben! Allerdings ist sie jedoch nicht ohne jegliche gerichtliche Vorkehrung in die dritte Ehe eingegangen. Als verheiratete Frau hatte sie von ihrem Mann als Garantie oder Entschädigung für ihre Mitgift eine sogenannte Ehe-Ladung erhalten. Die Höhe dieser Summe war unterschiedlich und hing nicht nur vom Wert der Mitgift und dem Vermögen des Ehemanns ab, sondern auch von den örtlichen Gepflogenheiten und dem sozialen Niveau der an der Verbindung beteiligten Familien. Allerdings war es Beatrice gelungen, eine Entschädigung zu erhalten, die unendlich höher war als das, was ein Ehemann selbst in der höchsten Aristokratie für normal hielt: Seiner Frau zu gewähren! Tatsächlich hatte sie nicht, wie es meistens der Fall war, Land oder Güter erhalten, die ihr Einkommen verschaffen sollten, sondern nichts Geringeres als die direkte Herrschaft über verschiedene Orte. Nur sechs davon sind uns heute bekannt. Drei der Städte sind mit mehreren tausend Einwohnern, die im reichen Tal liegen, das sich auf beiden Seiten des Tessins zwischen Mailand und Pavia erstreckte. Diese Zentren Abbiategrasso, Vigevano und Mortaro sind zu dieser Zeit noch Kleinstädte auf einer besonders urbanisierten italienischen Halbinsel. Zwei weitere Ortschaften Pontecurone und Voghera liegen südlich von Pavia am rechten Ufer des Pos. Das letzte der bekannten Zentren ist Monza! Diese Stadt ist nur etwa zehn Kilometer von Mailand entfernt und konnte sich beispielsweise während der Langobarden-Zeit als echte Rivalin dieser Stadt behaupten, die zur großen Metropole der Po-Ebene werden sollte. Diese Zeiten waren im 15. Jahrhundert vorbei, aber Monza blieb dennoch eine Stadt, die stolz auf ihre Vergangenheit war und seine Denkmäler, auch wurde sie von den Viscontis stehts mit großer Sorgfalt behandelt. Die Schenkung von Monza an Beatrice, wie es Filippo am 2. Januar 1404 tat, nachdem ihre Truppen es zurückerobert hatten, war für ihn achtzehn Monate nach seiner Hochzeit ein Weg um den Wert zu erkennen: Den er dieser Verbindung noch immer beimisste! Als Frau mit Macht liebte Beatrice es, zu befehlen und es war ihr ein großes Vergnügen, ihre Autorität über ihren gesamten Besitz auszuüben. Von einem Schloss zum anderen hielt sie ein Netzwerk von Kurieren in ständigem Kontakt mit den wichtigsten Zentren und überbrachte die Nachrichten, die ihr von den örtlichen Behörden und Institutionen: Die sie an sie sandte oder die ihr zugesandt wurden. Dies hinderte sie jedoch nicht daran, von Zeit zu Zeit selbst nach Monza, nach Vigevano, nach Mortaro zu reisen oder sogar eine Tournee-Inspektion aller oder eines Teils ihrer Ländereien zu unternehmen.

BEATRICE DI TENDA hier Szenenphoto , Tamara Wilson (Beatrice), Chor @ Franck Ferville

Seltene Pionierinnen…

Vor Beatrice war es nur sehr selten Frauen gelungen, sich in die politische Sphäre einzumischen und ihren Einfluss, ja sogar ihre Autorität auszuüben! Wer waren diese Pionierinnen? Drei oder vier Ehefrauen großer Herren und nicht eine mehr, deren Auftritt auf der politischen Bühne an der Seite ihres Mannes jedoch wie eine echte Bombe in einem Italien gewirkt haben muss. In dem die Ausübung von Macht schon seit vielen Jahrhunderten in den kommunalen Regimen als ausschließliches Monopol der Männer angesehen wurde! Die bekannteste dieser Pionierinnen war wohl Reine della Scala (1331-1384), die viele Jahrhunderte nach ihrem Tod dazu bestimmt war, der berühmten Oper in Mailand ihren Namen zugeben. Sie war in vielerlei Hinsicht eine außergewöhnliche Frau der Macht! Verheiratet mit Bernabe Visconti, der Mailand mit einer eisernen Faust rund zwanzig Jahre lang regierte, bevor er 1385 von seinem Neffen Gian Galeazzo von der Macht verdrängt wurde. Sie war die einzige Person, die ihrem Mann die Stirn bieten und ihn auch in seinen Entscheidungen sehr beeinflussen konnte! Als Ehefrau eines Mannes, dem unzählige Mätressen und Konkubinen zugeschrieben wurden, weckte sie bei diesem sogenannten Frauen-Sammler, der offensichtlich ein Gespür für die ungewöhnliche Schönheit, Persönlichkeit und Energie seiner Frau hatte: Eine echte tiefe Zuneigung! Als Mutter von einem Dutzend Kindern, die das Erwachsenen-Alter erreichten, arbeitete sie mit der Unterstützung ihres Mannes daran, für jedes von ihnen eine Frau oder einen Ehemann aus den höchsten Fürsten-Häusern Italiens, Deutschlands oder anderswo zu finden. Von Natur aus eine Frau mit Macht, bringt sie Bernabe dazu, ihr die gesamte Verantwortung zu übertragen für einen der wichtigsten Teile der Visconti-Herrschaft außerhalb der Lombardei zu regieren: Nichts Geringeres als die Stadt Reggio Emilia mit ihrem gesamten Territorium! Reine verwaltete daher Reggia Emilia ununterbrochen von 1371 bis zu ihrem Tod im Jahr 1384. Die unzähligen Briefe, die sie in dieser Zeit mit den Stadt-Behörden austauschte, zeigen dass sie ihr Amt mit Skrupel und ohne je Einmischung ihres Mannes ausübte.

Dies war nicht das Schicksal von Beatrice. Ihre Entschlossenheit, sich als absolute Herrin ihres kleinen Fürstentums zu betrachten, als Souveränin eines Staates, der sicherlich in den Staat ihres Mannes eingeschlossen, aber dennoch unabhängig war: Führte sie zu ihrem Untergang! In den ersten Jahren ihrer Ehe hatte sich Filippo zweifellos dafür entschieden, sich nicht in die Angelegenheiten seiner Frau einzumischen und ihr die Möglichkeit zu geben, ihre  Ländereien nach ihren Wünschen zu regieren. Doch die politischen Flitterwochen zwischen den beiden Eheleuten sollten von kurzer Dauer sein. Bald verpflichtete sich Filippo, seiner Frau zwar nicht alle Gebiete zurückzunehmen, die er ihr zum Zeitpunkt ihrer Heirat zugeteilt hatte, ihr aber zumindest nach und nach die Vorrechte zu entziehen  einer absoluten Autorität! Bevor er sich dann endgültig für eine radikalere Vorgehensweis entschied und somit seine Frau zum Schweigen brachte und ihre politischen Ambitionen ein Ende setzen.

BEATRICE DI TENDA hier Tamara Wilson, Quinn Kelsey - youtube Opéra national de Paris

BEATRICE DI TENDA - Aufführung in l’Opéra National de Paris - 13. Februar 2024

Folter, Macht, Liebe und Kalaschnikow…

Man muss sagen, dass diese wahre Geschichte die Fantasie wirklich anregt: Beatrice, eine reiche Witwe, heiratete in dritter Ehe Filippo, der später zum Tyrannen wurde! Von seiner Geliebten Agnese del Maino (1411-1465) davon überzeugt, dass seine Frau ihn mit dem jungen Orombello betrügt, lässt Filippo die beiden vermeintlichen Ehebrecher verhaften. Der Liebhaber wird gefoltert und bald ist es Beatrice selbst, die die schlimmsten Misshandlungen erleidet, bevor auch sie hingerichtet wird. Eine erstaunliche Handlung: Diese in Form eines wahren blutigen und brutalen Alfred Hitchcock (1899-1980)-Thrillers in eine Opern-Geschichte zu verwandeln und mit echtem politischem Nachdenken gegenüber romantischen sentimentalen Trivialitäten. Eine weibliche Figur wird dargestellt:  Die nicht in den Wahnsinn flüchtet! Sondern sich bis zum ihrem Märtyrertod mit viel Stärke und Willenskraft dem Schicksal stellt und sogar noch ihrer Rivalin Agnese verzeiht, die sie betrogen hatte.

 

Mit großer Sparsamkeit der Mittel hebt der amerikanische Regisseur Peter Sellars die Zeitlosigkeit eines Kriminal-Romans hervor: Der gleichzeitig auch durch Widerstand gegen Autoritarismus, Solidarität, Gerechtigkeit und Vergebung aufruft… Aber Romani hat nur ein sehr statisches Libretto konstruiert, dem Bellinis Musik nur episodisch einen gewissen dramatischen Schwung verleiht. Aber wir können uns jedoch nur freuen, dass das Belcanto-Repertoire der Opéra National de Paris, das sich seit Jahrzehnten um fünf Werke drehte: Endlich um einen neuen Titel bereichert wurde! Doch ist die neue Inszenierung auch Würdig, in das Repertoire aufgenommen zu werden? In den Bühnenbildern des amerikanischen Szenografen George Tsypin, die an einen mit einem Lineal gezeichneten Garten erinnern, aber äußerst kalt mit metallischen Hecken in fluoreszierendem Grün gemalt. Dort versucht Sellars eine sehr kluge [sic] Inszenierung aber ohne jegliche dramatische Spannung zu erschaffen! Dennoch müssen wir ihm noch dankbar sein, dass er den Charakteren eine gewisse psychologische Feinheit verliehen hat und sie gleichzeitig nicht nur auf erwartete Stereotypen reduziert hat. So ist Filippo nicht nur monströs, denn er scheint auch aufrichtig von Zweifeln erfüllt zu sein. Dagegen Beatrice zeigt, weit entfernt von dem eindeutigen Status des Opfers, in den das Libretto sie einsperrte: Eine unerwartete und interessante Gefühllosigkeit zeigt, als sie sich weigert, Orombello zu vergeben! Der unter der grausamen Folter falsche erpresste Geständnisse gegen sie ausgesagt hatte. In dieser Inszenierung ist es ein blutleerer entkernter Orombello, der am Rande des Sterbens steht und zu Beginn des zweiten Akts erscheint und der in keiner Weise Mitleid mit der jungen Frau hat: Die ihn „als Verräter sterben“ lassen will. In dieser Anprangerung der Schrecken der Folter – Beatrice wird wenige Szenen später das gleiche Schicksal erleiden wie Orombello – liegt vielleicht Sellars starke Idee, der es aber trotz allem kaum gelingt, dem Werk eine dramatische Spannung zu verleihen: Denn es bleibt leider offensichtlich zu gedankenleer! Zu blutarm!  

Der Regisseur überführt die Geschichte in ein autoritäres Regime unserer Zeit. Die ehemaligen Aktivisten Beatrice und Filippo sind heute politische Gegner, während Orombello ein leidenschaftlicher junger Mann ist, der in seiner Freizeit Folksänger ist.  Eine immer verschlossene Tür belebt Sellars manchmal mit Symbolen: Wie diese Männer, die am Ende des ersten Akts vorgeben, diese Metallhecke im Schloss-Garten mit einer Gartenschere zu beschneiden wie das absurde Bild einer Natur, die in die Irre gegangen ist und sich mehr und mehr verhärtet wie die Herzen der Menschen. Oder auch diese anderen Charaktere, die die Spiegel reinigen, in denen Filippo bald Antworten suchen wird und die auch später das Grab der noch lebenden Beatrice ausheben werden. Die Kostüme der amerikanischen Designerin Camille Assaf sind realistisch korrekt aber auch keine besondere Hilfe mehr für die Verdichtung der an sich kraftlosen und stark verblutenden Spannung von zu vielen Folterungen!

 

Musikalisch müssen wir trotz kleinerer Abweichungen noch einmal die Qualitäten eines homogenen und präzisen  Orchesters und die große Musikalität der Chöre loben, die wie immer großartig von der chinesischen Chorleiterin Ching-Lien Wu einstudiert wurden. Obwohl der englische Dirigent Mark Wigglesworth nicht unbedingt ein idealer Musiker für den Belcanto ist und  auch teilweise furchtbar langsam und ermüdend dirigierte.

 

Was die Stimmen angeht, wird die Bühne heute Abend von der amerikanischen Sopranistin Tamara Wilson dominiert: Es ist kaum zu glauben, dass die Sängerin vor ein paar Monaten auf der selben Bühne Turandot (1926) von Giacomo Puccini (1858-1924) interpretierte, denn nur wenige Stimmen bewegen sich so reibungslos zwischen den verschiedenen Stimm-Dimensionen! Allerdings ist die gesamte Belcanto-Grammatik vorhanden: Eingefädelte Klänge, Verzierungen im Diskant, Sorgfalt für den Text und auch für die Linie. Höchstens vielleicht die sehr schnellen Koloraturen verlieren ein wenig von ihrer Gestaltung! Dieses leuchtende und beißende Timbre, das auf einem konsistenten Medium mit hohen Tönen beruht und die in der Lage sind, den gesamten Saal der Bastille zu erhellen, verleiht seiner Märtyrer-Figur eine gewisse Aura: Die in der letzten Szene des Werks tapferer denn je ist!

 

Sie bildet ein Duo mit Orombello, interpretiert von samoanische Tenor Pene Pati auf höchstem Niveau: Die beiden Künstler teilen tatsächlich die gleiche Meisterschaft im Gesang und die es immer wieder wagen noch mehr Nuancen hinzuzufügen, vor allem aber ein ständiges theatralisches Engagement, eine Suche nach Bühnenpräzision ohne jeglichen Pomp. Das Publikum findet den Tenor in der Tat in großartiger Form, die Stimme ist an diesem Abend über den gesamten Ton-Umfang klangvoll und beginnt mit einigen schönen hohen Tönen: Die er im piano aufzulockern weiß. Sein Timbre ist sonnig und sanft, vor allem aber trifft seine sorgfältige Wortwahl alle Nuancen von Orombello ins Schwarze!

 

Der Bösewicht Filippo dieser Geschichte wird von dem hawaiischen Bariton Quinn Kelsey gesungen. Der sehr engagierte Sänger gibt einen Einblick in die Gewalt des Tyrannen, aber auch in seine Schwächen, mit einem Instrument, das es versteht Autorität und Sanftmut zu wechseln. Die intensive schwarze Stimme entfaltet sich mehr in den hohen Lagen als in der tiefen und teilweise mit einigen weißlichen Klängen, die den Umriss der Melodie  zeitweise ein wenig beschweren.

 

Wenn sich die österreich-italienische Mezzo-Sopranistin Theresa Kronthaler als Agnese mit der Darstellung dieser gequälten Frau beschäftigt, ist die Sängerin vielleicht zu Beginn der Oper  noch etwas verlegen: Dem Instrument fehlt mitunter die Kraft, die Atmung ist etwas zu kurz, ein vibratello verschwimmt in einigen Momenten in der Aufführung. Die Künstlerin gewinnt aber im zweiten Teil wieder an Festigkeit und Sicherheit, mit einem fruchtigen und dichtem Timbre bis in alle Höhen. Besonders sollte man auch ihre großen schauspielerischen Talente äußerst loben!

 

Der zweite samoanische Tenor Amitai Pati vervollständigt die Besetzungs-Liste als Anichino, der in nur wenigen Phrasen an diesem Abend eine wunderschön gehaltene Stimme zum Vorschein brachte. Mit einem klaren und verführerischen Timbre mit sorgfältigem legato, das Lust auf mehr macht! Während der koranische Tenor Taesung Lee als Rizzardo del Maino viel Autorität und Tiefe besitzt. Übrigens die beiden einzigen nicht historischen Figuren der Oper Beatrice di Tenda.

Das Publikum applaudiert herzlich für diese neue Produktion, die ein Werk hervorhebt, das wohl zu selten aufgeführt wird. Obwohl wir persönlich leider doch sehr enttäuscht waren: Besonders über die Inszenierung, über die Szenografie und last not least über die musikalische Leitung. Aber die Aufführungen werden noch weiter bis einschließlich 7. März 2024 gespielt. Auskünfte und Karten-Bestellung: operadeparis.fr   / +33 1 71 25 24 23 (PMP/16.02.2024)