Zürich: „Die lustige Witwe“, Franz Lehár

„Das Studium der Weiber ist schwer“ – so heisst es im Refrain von einem der ganz großen, unsterblichen Gassenhauer aus Lehárs Operette Die Lustige Witwe. Was in der Nachkriegszeit in Aufführungen und Verfilmungen dieser Operette oftmals als schenkelklopfende Nummer (mit einem genüsslichen Hauch von Misogynität, also Frauenfeindlichkeit) gegeben wurde, erhält nun in Zürich eine tiefere Dimension. Der Regisseur Barrie Kosky lässt am Ende nämlich Hanna Glawari die oftmals gestrichene zweite Strophe des Schlagers im Stil einer Diseuse interpretieren (arrangiert vom Dirigenten der Aufführung: Patrick Hahn). In dieser zweiten Strophe ist dann nämlich das Eingeständnis der Männer zu hören, dass sie eben auch Despoten (heute würde man sagen Machos) seien, zu Seitensprüngen neigten („ihr naschet gern, was sonst verboten“), und beschwipst nach Hause kämen. Hanna und Danilo stehen zu Beginn dieser Schlussszene als alterndes Ehepaar nebeneinander am Flügel.

(c) Monika Rittershaus

Doch Danilo schleicht sich gegen Ende dieser zweiten Strophe von dannen (fühlt er sich betroffen und geht wieder ins Maxim?) und Hanna bleibt allein auf der dunklen Bühne zurück, stützt sich auf den Flügel und spricht ihre letzten Worte: „Ja, so – ist’s einmal und fertig!“ Das Licht geht aus. Mit diesem berührenden, wunderbar feinfühlig ersonnenen und poetischen Epilog erreichte Kosky eine Tiefe, die er im Interview im Programmheft eigentlich – wenn auch etwas augenzwinkernd – ausgeschlossen hatte. Aber selbstverständlich ist er ein viel zu kluger Regisseur, um einfach an der lackierten Oberfläche der Operette haften zu bleiben. Vor dem Epilog lässt er nämlich den schmissigen Schlusschor des Finales Weib, Weib, Weib, Weib! Mädchenzart, Gretchenart, blondes Haar, mit dem treuesten Blauäugleinpaar ganz abrupt und verstörend abbrechen, um eben den erwähnten Epilog zu präsentieren. Das ist überraschend und genial.

So schließt sich der Bogen seiner Inszenierung, denn er hatte das Stück mit einem Prolog begonnen, wo man auch die leicht gealterte Hanna am Flügel sitzen sieht, allein, und sich zu einem Arrangement ab Klavierwalze (Kosky hat das auf YouTube entdeckt: Ein von Lehár selbst errichtetes Arrangement aus Melodiefragmenten seiner Operette) an die Vergangenheit erinnert, die nach und nach mit eleganten Tänzern im Frack konkrete Gestalt annimmt. Für diesen Prolog nimmt sich Kosky Zeit, viel Zeit – und das ist gut so, denn danach bringt Kosky den von ihm erwarteten Klamauk auf die von Klaus Grünberg gestaltete Bühne, die von einem spiralförmig über der Bühne in Schienen gleitenden Vorhang dominiert wird, Intimität und Öffentlichkeit zulässt und Kosky die Möglichkeiten zur genauen Charakterzeichnung eröffnet, einer Personenführung, die durchaus auch mal überzeichnet sein und sich in Stereotypen flüchten darf (Männer kriegen’s immer gleich im Kreuz, wenn sie sich etwas bewegen müssen).

(c) Monika Rittershaus

Erst ist in der langsam heraufdämmernden Erinnerung Hannas alles in monochrom gehalten, die Kostüme werden jedoch von Akt zu Akt bunter. Nach dem Schwarz-Weiß des ersten schleichen sich beim Fest mit den Bräuchen der pontevedrinischen Heimat und dem Vilja-Lied grüne Töne in die Kostüme, sie werden immer verrückter, die kunstfertigen Kopfputze der Damen wachsen in die Höhe, bis es im dritten Akt mit den Grisetten und der Imitation des „Maxim“ kein Halten mehr gibt, die Farben und die Schrillheit im Offenbach’schen Cancan regelrecht explodieren. Gianluca Falaschi hat hier eine schlicht atemberaubende kostümbildnerische Arbeit vollbracht und die Schneiderei, die Hut- und Schumacherei des Opernhauses Zürich haben diese Entwürfe mit überwältigender Pracht umgesetzt: Allein nur schon deshalb lohnt sich ein Besuch dieser Aufführung.

Die für das totale Operettenerlebnis erforderliche, nie nachlassende Beschwingtheit kommt einerseits von den schmissigen Choreografien von Kim Duddy, oftmals mit eingebautem Crossdressing und Genderflexibilität. Andererseits spielt die Philharmonia Zürich Lehárs so wunderbar orchestrierte Partitur mit einer klanglichen Transparenz der Extraklasse. Da lässt der junge, Dirigent Patrick Hahn (Jahrgang 1995 und bereits seit zwei Jahren GMD in Wuppertal) Instrumente und Nebenstimmen aufblitzen, verleiht der Partitur die erforderliche Farbigkeit, ohne je den Schmiss zu vernachlässigen. Das ist überragend geleitet und von den Musikern genau so fantastisch umgesetzt.

(c) Monika Rittershaus

Die Figur der Hanna Glawari wird von Marlis Petersen mit wunderbarer Vielschichtigkeit interpretiert, eine Frau, die weiß, was sie will. Ihr Spiel ist schlicht grandios, die Agilität, die Geschmeidigkeit, die Eleganz, die Verschmitztheit und die Intelligenz – das alles bringt sie großartig zum Ausdruck, jeder ihrer Auftritte packt und weckt Interesse! Das gilt auch für Michael Volle als Danilo: Von seinem ersten Auftritt an, wenn er betrunken und in ungeordneten Klamotten aus dem Maxim auf die Bühne torkelt bis zu seinem stillen Abgang im Epilog vermag der begnadete Sängerdarsteller zu fesseln. Stimmlich sind die beiden ein Traumpaar: Er mit seinem vollen, wunderbar ausdrucksstark timbrierten Bariton und seiner exemplarischen Diktion vermag genauso zu begeistern wie sie, Marlies Petersen, mit ihrer weich geführten, nie forcierenden und so wunderschön klingenden Sopranstimme und ihrer intelligenten und einfühlsamen Interpretation. Ihr Piano im Vilja-Lied zum Dahinschmelzen! Wenn sie dann beide vor dem Epilog die Melodie von Lippen schweigen, s‘ flüstern Geigen, hab dich lieb summen, ist man echt gerührt.

Ganz eindringlich zeigen Petersen, der Regisseur Kosky und der Kostümbildner Falaschi diese emanzipierte Frauenfigur: Im zweiten Akt fährt sie wie eine Madonnenstatue auf dem Flügel stehend gleich einer Osterprozession auf der Bühne ein, der lange schwarze Umhang wird schnell abgelegt, darunter trägt sie ein hautenges, sexy die Kurven betonendes Kleid. Die Männerfantasien von „Heilige und Hure“ sarkastisch bedienend. Gegen Ende mutiert sie immer mehr zur Ikone der selbständigen, emanzipierten Frau im 20. Jahrhundert: Marlene Dietrich; erst im schwarzen, männlichen geschnittenen Frackanzug, dann im eleganten Abendkleid, das Marlene im Lubitsch-Film Angel getragen hatte. Makeup, Frisur und Haltung, alles so echt wirkend, dass man glaubte, Marlene sei auferstanden!

(c) Monika Rittershaus

Das zweite Paar und die Nebenfiguren sind dann wieder eher in der Schablone der tradierten Operettenkomik angelegt. Valencienne, die vorgibt, eine anständige, verheiratete Frau zu sein, und deshalb ihren Verehrer Camille nicht so richtig ranlässt (oder war da nicht doch was im Pavillon?) wird als dämlich dauerkichernde Dame gezeichnet. Katharina Konradi spielt das mit der gebotenen Komik und singt mit herrlich leichter, biegsamer Stimme. Ihr Verehrer Camille de Rosillon wirkt wie ein beflissener, aber leicht depperter Oberlehrer. Andrew Owens gestaltet die etwas unsympathische Rolle mit sanftem, wohlklingendem Tenor.

Baron Zeta (Valenciennes Mann) ist der Trottel vom Dienst, es hat ihm gewaltig auf die Leitung geregnet, so schwer von Begriff ist dieser tattrige Botschafter Pontevedros. Martin Winkler interpretiert ihn mit witzig quäkender Stimme. Die wichtige Sprechrolle des Njegus (Kanzlist bei der pontevedrinischen Botschaft und Überbringer schlechter Nachrichten) wird von der Schauspielerin Barbara Grimm mit spürbar großer Lust am gekonnten Chargieren gegeben. Stets, wenn vom pontedrinischen Staat die Rede ist, schreien alle Pontevedriner auf der Bühne salutierend uffta, diesen Schlachtruf, den man von Fußballfans kennt. Die Verehrer Hannas, die noch so gern in Ja, das Studium der Weiber ist schwer einstimmen, sind mit Omer Kobiljak (Cascada) und Nathan Haller (Saint-Brioche) luxuriös besetzt.

Zum bestens gelaunten und spielfreudigen Ensemble leisten Valeriy Murga (Konsul Bogdanowitsch), Maria Stella Maurizi (Sylviane), Chao Deng (Kramow), Ann-Kathrin Niemczyk (Olga), Andrew Moore (Pritschitsch) und – es ist immer eine Freude, sie auf der Bühne zu sehen – Liliana Nikiteanu (Praskowia) wichtige Beiträge.

(c) Monika Rittershaus

Ein besonderes Lob gilt natürlich dem Tanzenemble (Sara Friedli, Natalia López Toledano, Romy Neumann, Sara Peña, Sara Pennella, Noa Joanna Ryff, Pietro Cono Genova, Alexander Hallas, Alessio Marchini, Davide Pillera, Steven Seale, Alessio Urzetta), welches seine schmissigen und rasanten Auftritte zu echten Hinguckern machen. Der Chor der Oper Zürich (Leitung: Ernst Raffelsberger) und der Statistenverein am Opernhaus Zürich tragen zum Erfolg dieser einhellig und zu Recht lautstark bejubelten Neuproduktion entscheidend bei.

Kaspar Sannemann 14. Februar 2024


Die lustige Witwe
Franz Lehár

Oper Zürich

Premiere: 11. Februar 2024

Regisseur: Barrie Kosky
Dirigent der Aufführung: Patrick Hahn
Philharmonia Zürich

Trailer