Die chilenisch-schwedische Mezzosopranistin Luciana Mancini singt die Titelpartie. Damit gibt sie den von Gewalt betroffenen Frauen, von denen das Stück handelt, eine Stimme.
Die chilenisch-schwedische Mezzosopranistin Luciana Mancini singt die Titelpartie. Damit gibt sie den von Gewalt betroffenen Frauen, von denen das Stück handelt, eine Stimme.
Liliya Namisnyk

Ich bin María, María von Buenos Aires", keucht eine Frau mit angstvoller, zugleich aufbegehrender Stimme in ein Mikrofon. Der Selbstbehauptungswille nützt ihr nichts. Momente später knallt es. Blut trieft von der Stirn der Frau, das Mordopfer verschwindet. Auftritt der Justiz: Beamte beginnen ihre Arbeit in einem holzgetäfelten Raum; es wird Gericht gehalten über einen Femizid.

Regisseurin Juana Inés Cano Restrepo startet ihren Abend an der Wiener Kammeroper mit einem Rufzeichen: Sie lässt María de Buenos Aires, diesen undurchsichtigen Opernsolitär des Tango-nuevo-Schöpfers Astor Piazzolla (1968), nicht anheimelnd atmosphärisch beginnen, sondern als handfeste Tragödie, genauer: als die Passion eines Vorstadtmädchens, das im Ballungszentrum das große Glück sucht, doch als Tänzerin und Prostituierte einen frühen Tod findet.

Eine solche Lesart ist zwar möglich, wird der Vieldeutigkeit des dichterischen Rätsellibrettos von Horacio Ferrer aber nicht gerecht: Da finden sich Zeilen, die den düsteren Mysterien einer Geisterwelt und den erotischen Lockungen des Tangos huldigen, da wimmelt es von quasireligiösen Schilderungen eines Marienlebens der etwas anderen, nämlich rotstichigen Sorte.

Erotisch-erratisch

Vor allem scheut Ferrer die erzählerische Klarheit: Beseelt von einem Faible für surreale Sprachbilder, legt er seiner María Wortkonvolute wie "Ein Terracotta-Engel band mir eine Sonne aus Milch aufs Kleid" in den Mund, er lässt sie als Schatten wiederauferstehen und am Schluss – seltsam, aber so steht es geschrieben! – eine neue María gebären.

Diese Mirakel sprengen mit der Zeit an der Kammeroper das hölzerne Setting des Gerichtssaals (Bühne: Anna Schöttl). In den Gesichtern beginnen Rosenmasken zu blühen (Kostüm: Lena Weikhard); im Hintergrund öffnet sich eine Tür und gibt rätselhafte Aussichten preis: Seltsam behelmte Wesen erwecken eine verstorbene María zum Leben; etwas später kämpft sie gegen phallische Würmer – das passt zwar gut zum Text, sieht aber doch ein wenig nach B-Movie-Horror aus. Überhaupt dünnen im letzten Drittel die Bildideen aus. Es bleibt letztendlich bei 90 Opernminuten mit sporadisch starken Schauwerten und einigen drahtigen Tanzeinlagen (Sabine Arthold).

Und die Musik? Sie zeigt Piazzolla auf der Höhe seiner dunkelglosenden Tangokunst. Zugegeben: Die immergleichen Akkordtreppen ermüden allmählich das Ohr. In Kleinstbesetzung dargebracht (vom Quartett Folksmilch mit Christian Bakanic), trumpfen die kurzen Stücke aber mit quecksilbriger Vitalität auf. Bariton Jorge Espino lässt die diversen Marienverehrer (als Payador) dabei Opern-opulent tönen, Daniel Bonilla-Torres legt die Sprechrolle des Duende ehrfurchtgebietend an. Und verdiente Jubelrufe im Schlussapplaus für Luciana Mancini, eine María mit Löwenherz und Donnerstimme.

Die chilenisch-schwedische Mezzosopranistin Luciana Mancini singt die Titelpartie. Damit gibt sie den von Gewalt betroffenen Frauen, von denen das Stück handelt, eine Stimme. (Christoph Irrgeher, 14.2.2024)