Berlin: „Written on Skin“, George Benjamin

Schafft es eine zeitgenössische Oper noch zwölf Jahre nach ihrer Uraufführung auf den Spielplan eines der größten Opernhäuser überhaupt, dann muss schon etwas daran sein, muss sie sich aus der überschaubaren Masse von neuen Werken hervorheben. 2012 wurde George Benjamins Written on Skin im Neuerungen gegenüber immer aufgeschlossenen Aix en Provence uraufgeführt, ein Jahr später kam das Werk an das Royal Opera House Covent Garden, wovon es auch eine DVD gibt. Amsterdam, Toulouse und der Maggio Fiorentino Musicale gehörten zu den Auftraggebern, und auch Wien und München verschlossen sich der neuen Oper nicht, die von der französischen Zeitung Le Monde für die beste Oper seit Wozzeck gehalten wurde, die The Guardian zur „the second-greatest classical composition oft the 21st century“ wählte und die von der deutschen Zeitschrift Opernwelt für die Uraufführung der Spielzeit 2012/13 gehalten wurde. Das Mahler Chamber Orchestra, das Uraufführungsorchester, unternahm eine Tournee mit einer halbszenischen Produktion, und 2018 brachte das Opernhaus von Philadelphia eine Aufführung in historisch getreuen Kostümen auf seine Bühne. In Berlin gab es Written on Skin konzertant in der Philharmonie zu erleben.

© Bernd Uhlig

Das Libretto beruht auf einem anonymen katalonischen Text mit dem Titel Le cœur mangé aus dem 13. Jahrhundert und schildert das Schicksal des Troubadours Guillem de Cabestaing aus der Provence, der ganz gegen die ungeschriebenen Gesetze des Minnesangs ein Verhältnis mit einer verheirateten Adligen begann, deren Mann ihn tötete und das Herz seiner Gattin als Mahlzeit vorsetzte, die daraufhin Selbstmord beging. Auch im Decamerone ist die grausame Geschichte vertreten. Der Titel Written on Skin weist darauf hin, dass im Mittelalter, ehe es das heute herkömmliche Papier gab, auf Pergament, d.h. auf Tierhaut, geschrieben oder gemalt wurde. In der Oper wird der Liebhaber der Frau eigentlich dafür engagiert, die Familiengeschichte aufzuschreiben und mit schmeichelhaften Bildern zu auszuschmücken. Die Macht der Kunst verführt sie zum Ehebruch. Der Librettist Martin Crimp hat der mittelalterlichen Handlung drei Engel aus der Jetztzeit hinzugefügt, die das Stück kommentieren, aber auch zu dessen Handlungsträgern als Liebhaber, Schwester und Schwager der unseligen Agnés werden.

© Bernd Uhlig

Anders als bei der Uraufführung in Aix dirigiert nicht der Komponist selbst sein Werk und anders als in Aix stammt zwar die Inszenierung von Katie Mitchell, hat die „Szenische Einstudierung“ aber Dan Ayling übernommen. Aufführungen aus der Provence scheinen sich in Berlin besonderer Beliebtheit zu erfreuen, denn gleich einen Tag später gibt es mit dem Goldenen Hahn in der Komischen Oper eine ebensolche, mit Barrie Kosky und ebenfalls für Aix geplant.

Zeitgenössische Werke genießen den Vorteil, von inszenatorischer Willkür geschützt zu sein, vor allem wenn ihr Schöpfer am Dirigentenpult steht, aber auch wenn er wie in Berlin im Publikum sitzt. So kann man im Bühnenbild von und in den Kostümen von Vicky Mortimer sowohl mittelalterliche Schlichtheit wie gegenwärtige Sachlichkeit wahrnehmen, die Bühne ist in ein Rechts und Links für Mittelalter und Neuzeit und ein Oben und Unten für Natur und Wohnen oder Lagerraum und Garderobe unterteilt, wo jeweils die Handlung sich abspielt, tritt die Beleuchtung in Aktion.

© Bernd Uhlig

Für die durchaus sangbaren und einprägsamen Partien hat man vorzügliche Sängerdarsteller gewinnen können. Georgia Jarman, die bereits in der Philharmonie die Agnés sang, hat einen farbigen, geschmeidigen Sopran voller Wärme und Eleganz, die allerhöchsten Töne können zwar nur angetippt werden, liegen aber auch außerhalb des Stimmumfangs ein Soprans. Darstellerisch hat sie sich ebenso nachvollziehbar die Partie zu Eigen gemacht, und so kann sie in jeder Hinsicht überzeugen. Vorzüglich ist auch der Countertenor Aryeh Nussbaum Cohen, der den First Angel und The Boy durchaus nicht nur optisch, sondern auch akustisch sich voneinander abhebend gestaltet, beiden aber eine wunderbar farbige, sinnlich klingende Stimme verleiht, die, wo es angebracht ist, sehr schön aufblühen kann. Einen markigen, knorrigen Protector singt Mark Stone mit ebensolchem Bariton, darstellerisch wie musikalisch keinen Wunsch offenlassend. Eher schärfer als dunkler als ihre Sopranschwester klingt der Mezzosopran Anna Werle als Zweiter Engel und als Marie. Behaupten kann sich auch Stipendiat Chance Jonas-O’Toole als Dritter Engel und John.

© Bernd Uhlig

Marc Albrecht am Dirigentenpult vermag die Finessen der Partitur auszuloten, die lediglich sechzig Instrumente verlangt, weniger Streicher als üblich, dafür mehr Schlagzeug und Bläser und einen besonderen Sphärenklang garantierende Glasharmonika sowie eine Viola da Gamba und die Mandoline vorsieht. Er muss nicht Sorge tragen, die Sängerstimmen nicht zu überdecken, der Orchesterklang bleibt bei aller Vielschichtigkeit stets transparent, nicht zuletzt, da bereits der Komponist selbst hörbar dem vokalen Teil seine besondere Sorgfalt hat zu Teil werden lassen.

Der Countertenor Bejun Mehta, der den ersten Engel und Buchillustrator in der Uraufführung in Aix und anderswo sang, empfahl in einem Interview das Werk gleichermaßen für Opernkenner wie für Operneinsteiger; die einen wie die anderen sollten in den nächsten Wochen in der Deutschen Oper Berlin überprüfen, ob sein Urteil zutreffend ist oder eher das des hiesigen Sängers derselben Partie, der das Werk mit einem mit Genuss erlebbaren Horrorfilm vergleicht. Aber vielleicht schließt das eine das andere ja nicht aus.

Ingrid Wanja, 27. Januar 2024


Written on Skin
George Benjamin

Deutsche Oper Berlin

Besuchte Premiere am 27. Januar 2024

Inszenierung: Katie Mitchell
Musikalische Leitung: Marc Albrecht
Orchester der Deutschen Oper Berlin