Stuttgart, Staatsoper, DIE ZAUBERFLÖTE - Barrie Kosky, IOCO Kritik,

An der Staatsoper Stuttgart verzaubert die nun vollständige Zauberflöte von Barrie Kosky und „1927“ ein Mehr-Generationen-Publikum. „17. Vorstellung“ steht bescheiden auf dem Besetzungszettel von der Oper Die Zauberflöte in der Staatsoper Stuttgart.

Stuttgart, Staatsoper, DIE ZAUBERFLÖTE - Barrie Kosky, IOCO Kritik,
Staatsoper Stuttgart @ Matthias Baus

Oper trifft Film - trifft Kabarett - trifft Revue - trifft Varieté - trifft Fantasy

An der Staatsoper Stuttgart verzaubert die nun vollständige Zauberflöte von Barrie Kosky und „1927“ ein Mehr-Generationen-Publikum

von Peter Schlang

„17. Vorstellung“ steht ganz bescheiden auf dem Besetzungszettel von Mozarts Oper Die Zauberflöte am 16. Januar 2024 in der Staatsoper Stuttgart. In Wahrheit bringt dieser Dienstag im Januar aber die nachgeholte Premiere bzw. ‚Stuttgarter Erstaufführung‘ jener legendären Inszenierung, mit welcher der damals noch „frische Intendant“ der Komischen Oper Berlin, Barrie Kosky, zusammen mit dem Regie- und Animations-Duo „1927“ im November 2012 die Opernwelt auf den Kopf stellte.  Diese Version der meistgespielten deutschsprachigen Oper wirkte so begeisternd und war bzw. ist so erfolgreich, dass sie zum Exportschlager wurde und bisher in Opernhäusern in weit über 20 Ländern auf vier Kontinenten gezeigt wurde.

Nach Stuttgart kam diese das Publikum zum Staunen und seinen erstaunlich hohen Anteil im Teenie-Alter zum Kreischen anregende „Berliner Zauberflöte“ im Jahr 2020. Die herrschenden Corona-Einschränkungen ließen aber seinerzeit nur eine abgespeckte, auf äußerste Distanz bedachte Aufführung mit kleinem Orchester und auf die Logen verteiltem Chor zu. Auch die Sängerinnen und Sänger mussten seinerzeit von der Seite bzw. ebenfalls aus den Logen singen und wurden darstellerisch auf der Bühne von Statisten bzw. Schauspielerinnen mit Corona-Masken gedoubelt.

Trailer - DIE ZAUBERFLÖTE - Staatsoper Stuttgart youtube Staatsoper Stuttgart

So kommt erst das Publikum dieser noch bis Mitte März 2024 laufenden dritten Aufführungsserie in den Genuss der ursprünglich vorgesehenen und eingangs zitierten Originalfassung. Wie groß die Vorfreude darauf und die von anderen Aufführungsorten nach Stuttgart übergeschwappte Begeisterung über diesen Theatercoup war bzw. ist, merkt man nicht nur an diesem nachgeholten und total ausverkauften Premieren- bzw. ‚Erstaufführungsabend‘, sondern auch daran, dass es für keine der jetzt angesetzten zehn Aufführungen noch Karten gibt.

Der eingangs verwendete Titel „Berliner Zauberflöte“ hat nicht nur darin seine Berechtigung, weil diese Inszenierung für die Komische Oper in Berlin entstanden ist, sondern auch weil sie ganz bestimmte, typisch „Berliner Züge“ trägt, nämlich die der lauten, schnellen, grellen, überdrehten sowie an Kunst und diese ausführendem Künstlervolk prallvollen 1920er Jahre. Diese werden in dieser Produktion nicht nur in den Kostümen der damaligen Zeit manifest – die drei Damen etwa im Charleston-Look und Papageno als Buster-Keaton- oder Charly-Chaplin-Kopie, sondern auch in der Anlehnung an den sich damals auf seinem Höhepunkt befindlichen Stummfilm, für den Berlin in jeder Hinsicht die große Bühne bot. (Für Bühne und Kostüme zeichnet Esther Bialas verantwortlich.)

Die Bühne der Stuttgarter Oper wiederum gehört in der Zauberflöten-Version von Barrie Kosky und 1927 - hinter diesem numerischen Namen verbergen sich die Regisseurin Suzanne Andrade und der Animations-Künstler Paul Barritt - einer den ganzen Bühnenrahmen einnehmenden zwei-funktionalen Wand, die am vorderen Bühnenrand steht. Ihre Hauptaufgabe ist die Wiedergabe der unzähligen, vielseitigen und äußerst fantasievollen Zeichentrick- und Collagen-Animationen, von denen diese Inszenierung zum einen lebt.

Die Zauberflöte - hier Papageno und die drei Knaben @ Martin Sigmund

Diese Wand besitzt aber auch mehrere Türen, eine große in der Mitte und zwei kleinere im „Erdgeschoss“ sowie fünf kleinere in der „oberen Etage“, aus der die Sängerinnen und Sänger der großen Rollen immer wieder heraustreten bzw.mit deren Rückseite sie, wie auf einer Kanzel stehend, herausgedreht werden. Die dadurch anfangs auftretende Befürchtung, dass die Sängerinnen und Sänger damit zum puren Rampenstehen verdammt sein könnten und eine Personenführung unmöglich würde, bestätigt sich glücklicherweise nicht (ganz). Zwar sind dadurch direkte Begegnungen und bestimmte Ensembleszenen tatsächlich nur teilweise oder mit Hindernissen zu realisieren, aber die Darstellerinnen und Darsteller nutzen den ihnen verbleibenden Freiraum für allerhand gestische, mimische und selbst akrobatische Ausdrucksformen und beleben so das Geschehen stimmig und charakterbezogen. Vor allem aber ergeben sich in Kombination mit den auf der Leinwand animierten Bildern und durch deren ungeheure Fülle kaum für möglich gehaltene Szenen und Geschichten sowie ganz neue Zusammenhänge und Spielmöglichkeiten, die nicht nur den oben erwähnten Mangel vergessen lassen, sondern auch über das bisher auf einer Opernbühne Gewohnte weit hinausgehen.

Durch diese geniale Überlagerung der zwei Bild-Ebenen, die mit enormem Drive und höchster bühnentechnischer Präzision von Statten geht, entsteht ein Ausmaß an Spielfreude, Witz, Unterhaltung und lustig-grotesken Steigerungen, wie sie der ioco-Rezensent noch nie oder zumindest nicht in dieser Dichte bei einer Opernaufführung erlebt hat.

Die Zauberflöte - hier Tamino und die drei Knaben @ Martin Sigmund

Welche Theaterkraft entfaltet etwa die Szene, in der der frisch verliebte, vor Sehnsucht schmachtende leibhaftige Papageno mit einem Trinkhalm ein animiertes riesiges Cocktailglas leert, worauf sich nicht nur der Himmel mit einer Herde fliegender rosaroter Elefanten füllt, sondern der Trinker auch mit einem ebenfalls projizierten Schluckauf aus lauter Herzchen reagiert, die zu einem „hicks“ zerplatzen! Tamino wiederum wird in einer seiner Schmacht- und Annäherungsszenen, Foto oben, von einem riesigen Schwarm bunter Schmetterlinge umflattert, die er vergeblich zu fangen oder zu verscheuchen versucht. So bekommt auch der für die Zauberflöte gebräuchliche Spartenbegriff des Singspiels eine ganz neue, weiter reichende und „mehrbödige“ Bedeutung. Diese wird etwa sichtbar, wenn das Instrument Zauberflöte durch sich füllende Notenlinien dargestellt wird, die von Schmetterlingen über die Projektionswand gezogen werden.

Diese verrückte Mischung aus Live-Performance und Animation, aus Collage, Comic, Music Hall, klassischer Opernaufführung und manch anderer Gattung passt natürlich ausgesprochen gut zu der ja aus vielen Perspektiven, Gedanken und Elementen zusammengesetzten Dramaturgie und Handlung der Zauberflöte. Deren Ungereimtheiten und Widersprüche in Aufbau und Handlung und bei ihrer bunt gemischten Figuren-Typisierung aus Märchen, Fantasy, Magie, Surrealismus und ungezügelten Emotionen stellen ja nicht selten Regie und Ausführende vor kaum lösbare Aufgaben und sogar Rätsel.  In dieser Berliner/Stuttgarter Fassung mit ihren beschriebenen unbändigen, alle Grenzen des bisher Möglichen sprengenden Mitteln des Theaters und der digitalen Kunst führen sie dagegen zu einem im wahren Wortsinn „verrückten“, lebens-prallen Stück Musiktheaters und machen dieses zu einer Feier des Lebens, der Jugend und der Liebe.

Zu diesen Themen erzeugt diese märchenhafte Produktion eine wahre Flut an Bildern, deren künstlerische Anregungen aus allen möglichen Epochen stammen - so etwa aus Kupferstichen des 18. Jahrhunderts wie aus aktuellen Comics - mit der ein Museum eine eigene Sammlung mit Bilderbögen anlegen könnte. Das Programmheft bestätigt diese Vermutung einer schier unendlichen Fülle an Bildern, wenn es die Zahl von einhundert parallel nötigen konventionellen Bühnenbildern nennt.

Die dadurch entstehende Reise durch verschiedene Fantasiewelten ist aber nie reiner Selbstzweck, sondern orientiert sich wunderbarerweise stets am 

Rhythmus der Musik und der dieser zugrundeliegenden Texte. Die Animationen beziehen folglich ihr Timing, ihren Puls fast durchgehend aus der Musik. Das gilt vor allem für die in der Urfassung gesprochenen, oft etwas spröden Zwischentexte bzw. Dialoge. Diese wurden in dieser Berliner-Stuttgarter Fassung gestrichen und durch eingeblendete kurzgefasste, äußerst pointierte Zwischentitel ersetzt, die teilweise als Sprechblasen dem Mund der passgenau vor der Animationswand stehenden Sängerinnen und Sänger entspringen. Auch das bringt eine große Vielfalt an situations-komischen und überraschenden Einfällen hervor, die herkömmlichen Regiearbeiten weitgehend verwehrt bleiben.  Genial und äußerst berührend ist die Idee, die so entstehenden „stillen Pausen“ mit Teilen aus Mozarts Klavierfantasien in c-Moll KV 396 und 397 zu füllen. Yuri Aoki am Hammerklavier interpretiert diese sehr einfühlsam und mit großem dramaturgischen Gespür. Das funktioniert hervorragend und entwickelt einen ganz eigenen Reiz wie auch viel ironisches Potential, das der verrückten Zauberwelt Mozarts und seines Librettisten Emanuel Schickaneder eine wunderbare weitere Ebene hinzufügt.

Dazu kommt auch hier die fantasievolle, teils wirklich verrückte Bilderwelt Paul Barritts, die viel mehr und vor allem Neues erzählt als mancher Monolog oder Dialog der Protagonisten. Bilder präsentieren, - wie im Stummfilm, an den dieses „Zauberflötenfest“ ja immer wieder erinnert - eine eigene Geschichte und zwar verstärkt durch Gestik, Mimik, Blicke, Bewegungen und deren Tempo. Dadurch aber kann in jedem/jeder Betrachter/in eine eigene Bilderwelt, ja, eine individuelle „Zauberflötenwelt“ entstehen - wie bei der häuslichen Lektüre eines Märchenbuchs!

Trotz der manchmal nicht zu vermeidenden Überlegenheit der Bilder gerät die Musik bei dieser Zauberflöten-Fassung nie unter die Räder oder in die zweite Reihe, sondern verteidigt den ihr von ihrem Schöpfer zugedachten Stellenwert. Das ist zu allererst das Verdienst des aus Griechenland stammenden Dirigenten George Petrou, dessen Dirigat man deutlich anmerkt, dass er große Erfahrung in der historisch-informierten Aufführungspraxis hat (Seit 2021/22 ist er etwa Künstlerischer Leiter der Händelfestspiele in Göttingen.). So sorgt er für einen leichten, federnden und transparenten Mozart-Sound, den er aber an den entsprechenden Stellen auch durchaus zu Dominanz und Klangfülle zu führen vermag. Unter diesen günstigen Bedingungen können sich die die oft noch recht jungen Sängerinnen und Sänger wunderbar entfalten und überwiegend sehr beachtliche und überzeugende Rollenportraits auf die Bühne bzw. „vor und in die Projektionswand“ bringen.

Das gilt umso mehr, als ja auf das singende Personal wie beschrieben hier ganz andere Herausforderungen und Bedingungen warten wie in einer konventionell inszenierten Oper. Hier kommen auch dem Orchester und ganz besonders seinem Leiter eine ganz wichtige Rolle zu: Sie sind nicht nur Begleiter und Vermittler zwischen Graben und Bühne, sondern müssen die Balance mit den animierten Bildern und vor allem zu den in diese integrierten Sängerdarstellern halten. Das gelingt sehr überzeugend und sorgt so für eine ziemlich perfekte musikalisch-dramaturgische Harmonie, die den Protagonistinnen und Protagonisten sicht- und hörbar guttut.

Beate Ritter als Königin der Nacht muss sich in ihre erste große Arie zwar erst noch etwas einfinden, findet dann aber zu ihrem Stil und der ihr eigenen, sehr schönen Stimm- und Rollengestaltung. Ihre zweite Arie gestaltet sie dazu sehr überzeugend, auch in den höchsten, bekanntermaßen ja äußerst heiklen Lagen!

In der entgegengesetzten Stimmlage gilt das gleiche für den Sarastro von David Steffens, der zwar in den „tiefsten Tiefen“ noch nicht ganz an das Format der großen Sarastro-Darsteller früherer Stuttgarter Zauberflöten heranreicht, aber insgesamt durch seinen sehr geschmeidigen, runden Bass für sich einnimmt.

Moritz Kallenberg und Andrew Bogard als Geharnischte fügen sich genauso stimmig und souverän in die Mannschaft aus „Sarastros heiligen Hallen“ ein wie die Männer des Staatsopernchors, der - auch mit den Frauen im Schlussbild - von Bernhard Moncado wieder perfekt vorbereitet worden ist.

Elmar Gilbertsson gibt den Monostatos mit Nosferatu-Haupt und -kostüm als europäisch-westlichen Bösewicht bissig-geifernd. Mit seinem animierten Wolfsrudel als Drohtruppe zeigt er sich als der erwartet gefährliche und dämonische Untergrund-Herrscher. Am überzeugendsten wirkt an diesem Abend Claudia Muschio als Pamina, die mit feinem Piano und makelloser Intonation, auch in der Höhe, begeistert. Mingjie Lei als Tamino betont die Jugendlichkeit, Unerfahrenheit und Neugierde des „Noch-nicht-ganz-Helden“, legt im Laufe des Abends seine anfängliche Unsicherheit ab und liefert eine stimmlich sehr solide Leistung, die ein großes Versprechen auf die Zukunft darstellt.

Björn Bürger hat es als lebensfroh-leichtsinniger wie „leichtstimmiger“ Papageno nicht allzu schwer und wird seinem brillanten Ruf als Stuttgarter Buffo-Bariton auf überzeugende Weise gerecht. Kyriaki Sirlantzi ist ihm in ihrem kurzen Auftritt eine in Freude und Unbekümmertheit seelisch verwandte und sängerisch fast gleichwertige Papagena. Sehr ansprechende, wunderbar aufeinander abgestimmte und mit Freude zu hörende Trios bieten die drei Damen von Lucia Tuminelli und Shannon Keegan vom Internationen Opernstudio der Staatsoper sowie Stine Marie Fischer einerseits und drei Solisten des Tölzer Knabenchores als die drei Knaben andererseits.

So wird der an vielen Stellen aufbrandende Szenenapplaus am Ende dieses Opernfestes durch einen nicht enden wollenden Jubel bestätigt, der neben den musikalisch Agierenden ganz gewiss auch dem nicht persönlich hervortretenden Regieteam um Barrie Kosky gilt, zu dem neben den bereits Genannten noch der für die Beleuchtung verantwortliche Diego Leetz und der mit der szenischen Einstudierung betraute Philipp Westerbarkei gehören. Ihnen gebührt das große Verdienst, die Oper entstaubt, von ihrem Sockel geholt und in die Moderne befördert zu haben, dies aber nicht zeitgeistig-besessen, sondern ganz im Sinne eines Spiels und mit viel Fantasie und überbordender Erzähl- und Lebensfreude. So wird die Oper (wieder) jung, geht - im guten Wortsinn – mit der Zeit und vermag neue Gruppen von Zuschauern und vielleicht künftigen Opernfans anzulocken.

Weitere Aufführungen am 26. und 28. Januar, am 17., 20., 22 und 23. Februar sowie am 13. März 2024. Nach Informationen der Staatsoper Stuttgart sind alle Vorstellungen ausverkauft.