Tief beeindruckt ist die Regisseurin Vera Nemirova von diesem Verführer in Wolfgang Amadeus Mozarts Dramma giocoso Don Giovanni. Voller Sympathie outet sie sich in einem heimlichen Liebesbrief an den Verführer, eine seiner mehr als tausend Abenteuer gewesen zu sein. Im Programmheft der neuen Inszenierung am Staatstheater Nürnberg hat sie dieses Schreiben der „geheimen Freundin“ abdrucken lassen: „Sie alle haben Dich gebraucht, um etwas über sich selbst und das Verhältnis zu ihren Liebsten zu lernen. Du, Giovanni, bist die treibende Kraft für alles Verborgene. Für die Lust und den Schmerz. Für Genuss und Tod.“

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Samuel Hasselhorn (Don Giovanni) und Wonyong Kang (Leporello)
© Bettina Stöß

Anders als bei den vielen Liebschaften des herzbrechenden Tausendsassa lebt sie dabei in Frieden, ja lustvoller Reminiszenz an die wohl kurze Affäre. Und im Plauderton berichtet sie ihm vom Schicksal anderer Eroberungen, der Donna Elvira oder Donna Anna; vom bäuerlichen Hochzeitspaar Zerlina und Masetto gar, deren kleiner Bub in seinen Gesichtszügen doch sehr einem gewissen Don Giovanni ähnele.

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Julia Grüter (Donna Anna) und Sergei Nikolaev (Don Ottavio)
© Bettina Stöß

Nemirova, die in Nürnberg bereits eine fabelhafte Carmen inszenierte, nimmt es ernst, dass das Dramma des Textdichters Lorenzo da Ponte eher ein heiteres Spiel ist, Mozart es als Opera buffa einordnete. So ist Leporello geradezu Prototyp eines ebenso gefräßigen wie schlagfertigen Dieners, eine uralte Komödienrolle, die zudem im Verkleidungsspiel, wie auch bei Zerlina und Masetto, dem Gesicht hinter der Maske auf den Grund geht. Dabei verlangt Nemirova im Rollenspiel viel Bewegung, Sängerinnen und Sänger sind nicht nur im Wechselbad der Gefühle dauernd unterwegs. Jens Kilians Bühne fokussiert anfangs auf die Protagonisten, nur einige Klappstühle möblieren den abstrakten Raum aus immer wieder verschobenen schwarzen Wänden und leuchtend metallischen Türen, die Sinnbild des Versteckspiels sind und hinter denen sich im schnellen Wechsel neue Erfahrungen für die ein- und ausgehenden Figuren verbergen. Bunte Badeanzüge und Pooldrinks illuminieren nur kurzzeitig Giovannis prickelnde Lustausflüge in mondäne Saunaclubs. Umso detaillierter, mit geradezu liebevoller Feinzeichnung werden die Tafelmusiken bebildert, die nicht nur musikalisch den Stil damals populärer Bühnenmusiken von Soler oder Sarti kopieren, sondern auch barocken Textilrausch herauskehren. Im Gegensatz dazu bleiben Marie-Luise Strandts Kostüme der Opernhandlung zeitlos, im Adelskreis doch durchaus edel und schillernd abwechslungsreich.

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Wonyong Kang (Leporello) und Corinna Scheurle (Donna Elvira)
© Bettina Stöß

In vielschichtig fantastischer Leuchtkraft beeindruckt die Nürnberger Staatsphilharmonie. Nach der dicht verwobenen Sinfonik in Hindemiths Mathis der Maler leitete sie Generalmusikdirektor Roland Böer in ein Klangverständnis, das Prägnanz von historisch informiertem Musizieren zusammenführt mit frühromantischem Tuttiglanz. Dass er bereits markant die halben Noten im Bass des Ouvertüren-Beginns aushalten lässt, die, um die Dominanz dunkler Mächte anzudeuten, doppelt so lang klingen müssen wie die Oberstimmen, zeigte unmittelbar seinen präzisen Zugriff. Den lebendig sinnlichen Pulsschlag dieser schwarzen Komödie, den unersättlichen Vorwärtsdrang zeichnete er locker und zielgerichtet nach. Wundervoll atmosphärisch agierte auch die Continuo-Gruppe des Orchesters bei der Begleitung der Rezitative.

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Andromahi Raptis (Zerlina)
© Bettina Stöß

Zur Mozartwonne wurde das Sängerfest der jungen Stars auf der Nürnberger Bühne. Wonyong Kang legte als Leporello gleich voller Energie und samtig rundem Bassvolumen vor; ein Kabinettstück dann seine Arie „Madamina, il catalogo è questo“, in der er Donna Elvira zu trösten versucht, wenn er eine schier unendliche Liste mit Don Giovannis Amouren entrollt: Toilettenpapierrolle oder doch eher eine viele Ellen lange Kassenbon-Fahne eines Super-Liebesmarkts? Don und Diener, die sich schlagen und wieder vertragen müssen: den gar nicht so noblen Adligen verkörpert Samuel Hasselhorn, bereits gefeierter Graf in der Nürnberger Figaro-Inszenierung, mit rasant drängendem Spiel, sich steigernder Brillanz in seinen Arien (bei wild sprudelndem Champagner-Wein „Finch’han dal vino, calda la testa“ oder mit poetisch sinnlicher Verführungskunst „Là ci darem la mano“ bei Zerlina): für den von allen Regeln der Gesellschaft losgelösten Don Giovanni, der seinen Zeitgenossen den Spiegel vorhält, konnte Hasselhorn scheinbar mühelos alle Register seiner Verführungskunst ziehen. Wer könnte da der Sympathie der „geheimen Freundin“ nicht folgen?

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Andromahi Raptis (Zerlina) und Samuel Hasselhorn (Don Giovanni)
© Bettina Stöß

Sergei Nikolaev gelang es, der oft unterschätzten Partie des Don Ottavio Statur zu geben: in schnellem Spiel ebenso wie in klar fokussierten tenoralen Höhen. Stimmlich steinern tönte der Komtur des Taras Konoshchenko, doch menschliche Züge werteten seine Rolle deutlich auf. Demian Matushhevskyi überzeugte in ausdrucksstarker Dynamik als Masetto. Farbenreich und mitreißend gefielen die Sänger des Opernchores in der präzisen Einstudierung von Tarmo Vaask.

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Samuel Hasselhorn (Don Giovanni)
© Bettina Stöß

Reine Klanglust und vibrierende Spannung auch bei den Sängerinnen: Julia Grüter bezauberte mit enormer Präsenz, bewundernswerter Kontrolle und Kraft in der Darstellung wie auch in rein stimmlicher Umsetzung der Donna Anna: zum puren Genuss wurden ihre leidenschaftlichen wie lyrischen Sopranhöhen. In Corinna Scheurles hoffnungslos verliebter Donna Elvira war Leidenschaft und berückend hochkarätiges Stimmtimbre zu erleben. Als raffinierte Zerlina umgarnte Andromahi Raptis (hingebungsvoll in „Vedrai, carino, se sei buonino“) ihren Masetto und imponierte in lockeren Legato- und Belcantofähigkeiten im sich anbahnenden heißen Flirt mit Giovanni.

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Andromahi Raptis, Demian Matushevskyi, Wonyong Kang, Corinna Scheurle, Sergei Nikolaev, Julia Grüter
© Bettina Stöß

Am Ende füllt sich die Bühne mehr, zum Diner an einer überreich gedeckten Tafel lädt Don Giovanni den Komtur ein. Italienisches Dramma wird nun wirklich zum Drama; Donna Elviras Versuch scheitert, Giovanni noch abzubringen von seiner abenteuerlichen Begierde. Im Hintergrund drohen übereinander verkeilte Grabsteine Giovannis Schicksal an, Fackelträger entzünden den Scheiterhaufen, Flammen lodern hoch, verschlingen den unwiderstehlichen wie rebellischen Macho.

Schlüssig ausgefeilte Charaktere der komponierten Figuren und liebevoll musikalisierte Emotionen; eine Höllenfahrt mit Mozarts obsessiv zeichnender Musik, die am Nürnberger Staatstheater ans Herz greift!

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