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Opern-Kritik: Staatstheater Nürnberg – Don Giovanni

Selbstjustiz und schwarze Zukunft

(Nürnberg, Opernhaus, 20.1.2024) Wir brauchen diesen Libertin im Leben und in den Träumen: Regisseurin Vera Nemirova zeigt, wie eine von Don Giovanni gereinigte Gesellschaft weitaus unglücklicher ist als zuvor. Dazu liefert Roland Böer mit der Staatsphilharmonie Nürnberg eine schillernd perspektivenreiche musikalische Deutung.

vonRoland H. Dippel,

Staatsintendant Jens-Daniel Herzog freut sich, dass er jetzt alle drei Da-Ponte-Opern Mozarts im Repertoire hat. Und Regisseurin Vera Nemirova hat ihrem Titelhelden Don Giovanni, dem meistinterpretierten und beschriebenen Womanizer der europäischen Operngeschichte, im Programmheft einen bittersüßen Brief geschrieben. Aus diesem geht hervor, dass das Leben der trostlosen Biederfrauen und ratlosen Biedermänner nach ihrer an Giovanni vollzogenen Selbstjustiz gelaufen ist. Aber Nemirova ist weit davon entfernt, über Mozarts „Don Giovanni“ den feministischen Stab zu brechen. Vielmehr geht es ihr darum, dass es diesen Libertin im Leben und in den Träumen geben muss, weil ohne ihn in einer lust- und freudlosen Gegenwart alles noch viel, viel schlechter wäre. Der vom Bayerischen Rundfunk live übertragene Abend nimmt im zweiten Teil ordentlich Fahrt auf, weil Nemirova ohne fotorealistische Ästhetik stockdunkle Bilder dafür findet, wie ein neuer rigider Moralismus die ermüdende Spaßgesellschaft geißelt und die gereinigte Gesellschaft weitaus unglücklicher ist als der „bestrafte Wüstling“ Don Giovanni in seiner Lusthölle. Der Chor hatte ordentlich Spaß bei seinen Auftritten zur Swingerparty und als Schlägertrupp.

Szenenbild aus „Don Giovanni“
Szenenbild aus „Don Giovanni“

Stark: Leporello und die Frauen

Insgesamt geraten die drei Frauen und vor allem Don Giovannis Diener Leporello in der fein gewitzten Darstellung durch den souveränen Wonyong Kang zu weitaus stärkeren Figuren als der „Verführer von Sevilla“ selbst. Der in Nürnberg in Reihe mit luxuriösen Paradepartien wie Graf Almaviva, Mathis der Maler und von Eisenstein bedachte Samuel Hasselhorn singt den Giovanni erwartungsgemäß charismatisch. Aber im Spiel wirkt er weitgehend bieder wie ein Regionalpolitiker an seinem freien Abend. So gerät es zum Wahlversprechen vor erleuchtetem Auditorium, wenn Giovanni den Vorwurf des Frauenschänders in eine Selbstdarstellung als altruistischer Freudenspender ummünzt. In allen szenischen Details nutzt Nemirova Lorenzo da Pontes fürwahr geniales und gnadenlos sezierendes Textbuch für das Prager Auftragsstück aus dem Jahr 1787. Marie-Luise Strandts Kostüme pendeln mit ins Auge springenden Analogien zwischen spätem 18. Jahrhundert und stilisierter Gegenwart. Der neue Nürnberger Beleuchtungsleiter Ingo Bracke macht mit scharfen Lichtsäulen einige Szenen zum Verhör. Schade nur, dass ausgerechnet Donna Elvira zur zickigen Comedy-Schickse im neurotischem Dauerdelirium degradiert wird und Corinna Scheurle mit ihrem bei Rossini brillanten Mezzo in dieser Partie deshalb auch szenisch etwas kämpfte. Hochspannend dagegen Andromahi Raptis als mit Gewicht besetzte Zerlina, deren Augenringe hohe Belastungen schon vor der Hochzeit signalisieren. Ihre beiden Arien und die Begegnungen mit Giovanni singt Raptis mit dramatischer Intensität. Nemirova kostet dabei genüsslich aus, dass es im bizarren Spiel der SM-Vereinbarungen zwischen Zerlina und Masetto äußerst fluide Beflügelungen gibt. Zerlina zeigt dabei mehr Ambivalenz als ihr Bräutigam. Demian Matushevskyi macht Masetto zum meist netten Jungen mit allenfalls ein bisschen Gewaltbereitschaft.

Szenenbild aus „Don Giovanni“
Szenenbild aus „Don Giovanni“

Böse ohne Dämonie

Fast zu gut spielt Sergei Nikolaev Donna Annas Bräutigam Don Ottavio als blassen, immer picobello angezogenen Buchhalter-Typen mit feinen Tonfäden, die hier freilich keinen großen Nachdruck haben dürfen. Zwischen Explosivität und kindlichem Ermüden singt Julia Grüter eine imponierende Donna Anna. Sie zelebriert beide Arien souverän und fackelt in faszinierendem Furor ihre Erzählung vom erotischen Crash mit Giovanni ab. Eine in Schuldbewusstsein zerknirschte Seele klingt anders. Die Wände, die fahrenden Stoffbahnen und Jens Kilians Dekors bleiben bis zum mit Kerzen und weißen Lilien ausgestellten Sarg des Komturs und bitteren Schluss nachtschwarz. Im Laufe des Abends wird es immer spannender, wie die romantischen „Giovanni“-Deutungen von E. T. A. Hoffmann und Co. in Nemirovas Erzählungen einfließen, das finale Sextett allerdings statt Versöhnung nur noch mehr Frust bringt. Die Dämonie der Schlüsselszene beim Erscheinen des steinernen Gastes fehlt allerdings nach der leicht abgewandelten Arienfolge im zweiten Aufzug. Der Komtur bleibt Schlafrock-Geldbürger und Taras Konoshchenko somit auch vokal auf normaler Bodenhöhe. Die Hölle steckt also nur in den überlebenden Figuren selbst, deren erfolgreicher Rachefeldzug gegen Don Giovanni bringt keine Erlösung.

Szenenbild aus „Don Giovanni“
Szenenbild aus „Don Giovanni“

Kantig und realistisch

Eine schillernd perspektivenreiche Deutung liefert Roland Böer mit der Staatsphilharmonie Nürnberg. Straff, nur manchmal beglückend und oft kantig klingt diese Premiere. Manches bleibt beiläufig, aus den Hölzern in Leporellos Registerarie sprüht weder Galgenhumor noch Sarkasmus, und viele instrumentale Kantilenen wirken etwas spröde. Einen packend dramatischen bis infernalischen Zug erhalten allerdings die beiden großen Szenen des Finales. Zur Pause und am Ende feierte das Auditorium alle Mitwirkenden mit großem Applaus. Diese unterm Strich aufregende Neuproduktion spiegelt Nischen des gesellschaftlichen Klimas von 2024 an einer 237 Jahre alten und noch immer nicht aus der Zeit gefallenen Oper. Manchmal unschön, aber immer plausibel und packend.

Szenenbild aus „Don Giovanni“
Szenenbild aus „Don Giovanni“

Staatstheater Nürnberg
Mozart: Don Giovanni

Roland Böer (Leitung), Vera Nemirova (Regie), Jens Kilian (Bühne), Marie-Luise Strandt (Kostüme), Tarmo Vaask (Chor), Georg Holzer (Dramaturgie), Ingo Bracke (Licht), Samuel Hasselhorn, Wonyong Kang, Corinna Scheurle, Julia Grüter, Sergei Nikolaev, Demian Matushevskyi, Andromahi Raptis, Taras Konoshchenko, Chor des Staatstheater Nürnberg, Statisterie des Staatstheater Nürnberg, Staatsphilharmonie Nürnberg

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