2024 jährt sich Puccinis Todestag zum hundertsten Mal – ein würdiger Anlass, sein oft unterschätztes Mädchen aus dem goldenen Westen aus 1910 auf den Spielplan zu setzen. Die abwechslungsreiche, kleinteilige Partitur fordert mehr Aufmerksamkeit von ihren Hörern als seine Hit-Nummern aus La bohème oder Turandot und ist wahrscheinlich deshalb nie so populär geworden. Dennoch will man dem Komponisten Blumen streuen, denn dieser metaphorische Prärieblumenstrauß mit seinen kleinen Blüten und wilden Gräsern ist ihm genauso schön gelungen wie das üppige Floristengebinde namens Tosca.

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Malin Byström (Minnie) und Yonghoon Lee (Dick Johnson)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Es geht um eine junge Frau namens Minnie, die in einer von Männern dominierten kalifornischen Goldgräbersiedlung einen Saloon betreibt und sich in einen Fremden verliebt: den als Weltmann Dick Johnson getarnten Banditen Ramerrez, seines Zeichens schneidiger Spinto-Tenor. Das kann dem Bariton-Sheriff, der mehr als nur ein Auge auf sie geworfen hat, weder dienstlich noch privat gefallen. Wer nun an die Dreieckskonstellation aus Tosca denkt, liegt insbesondere im zweiten Akt richtig. Allerdings geht Minnie nicht wie Tosca zu Scarpia, sondern Sheriff Rance bedrängt Minnie in Ihrem Zuhause. Und während in Tosca Cavaradossi in der Folterkammer nebenan blutet, verrät Blut das Versteck des vom Sheriff angeschossenen Banditen. Ein von Minnie initiiertes Pokerspiel, in dem sie sich und das Leben ihres Geliebten als Preis anbietet, verliert Rance, weil Minnie mit falschen Karten spielt. Ähnlich wie Scarpia ist aber auch er ein Betrüger und denkt nicht daran, dem Liebespaar ein Happy End zu gönnen. Das kommt trotzdem, weil Minnie im dritten Akt wie eine Walküre auf die Bühne stürmt und ihren Dick Johnson aus der Henkersschlinge befreit.

Bei Regisseur Marco Arturo Marelli entschweben die beiden an der Wiener Staatsoper zum Schluss in einem jener bunten Heißluftballons ins Glück, wie sie in der Gegend von San Diego regelmäßig in den Abendhimmel steigen. Dieses kitschige und wahrscheinlich unglaublichste lieto fine seit dem Barock kann man als unglaubwürdig und übertrieben kritisieren, doch ist das nicht auch das offene Geheimnis der Hollywood-Filmmaschinerie? Dass bei diesen komplexen Figuren mit ihren Tricks und Täuschungen das Leben ab sofort in Rosarot verlaufen wird, glaubt ohnehin niemand, das wusste auch der Komponist und machte das im Abschiedsschmerz des Chors deutlich. Der Ballon bleibt auch das einzige Spektakel in dieser Inszenierung, die sich – wie Puccini mit seinem geradezu filmmusikalischen Zugang – auf die Bebilderung der Handlung beschränkt.

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Yonghoon Lee (Dick Johnson)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Zeitgenössische Updates machen aus den Goldgräberbaracken ein Containerdorf und aus dem Saloon einen Imbiss, in dem sich Carlos Osuna als Barkeeper Nick atmosphärisch wie stimmlich wohlfühlt. Andere nützten den ersten (Saloon)-Akt, der mit vielen kleinen Ensembleszenen eine ähnliche Funktion wie das Café Momus der Bohème hat, zum Einsingen. Das trübte ein wenig den Gesamteindruck, der durch die beherzten schauspielerischen Leistungen zur Vorstellung der Stimmung in der Minensiedlung jedoch mehr als kompensiert wurde. Positiv hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang etwa Dan Paul Dumitrescu, als Mr. Ashby im Auftrag von Wells Fargo auf der Suche nach Ramerrez, oder Attila Mokus als gewitzter Sonora. Neben den echten Spielkarten werden im Saloon auch die metaphorischen Karten für den zweiten Akt gemischt, man erlebt die plumpen Annäherungsversuche des Sheriffs an Minnie ebenso wie das Erscheinen von Dick Johnson – gerade rechtzeitig, bevor sich Längen einstellen.

In der Partie des (Herzens)räubers macht Yonghoon Lee ausgezeichnete Figur – man traut ihm zu, dass er die zugeknöpfte, den Goldgräbern Bibellektionen erteilende Minnie mit seiner Strahlkraft aus der Reserve lockt. Stimmlich blieben kaum Wünsche offen, sieht man davon ab, dass er die mühelos erklommenen hohen Töne im ersten Akt eleganter hätte beenden sollen. Die Stimme von Malin Byström taute erst im zweiten Akt auf, spielte und sang sich dann aber als Minnie in alle Herzen. Dabei helfen auch Puccini und seine Librettisten Carlo Zangarini und Guelfo Civinini mit, denn die Geschichte ist spannend und Minnie gewitzt gezeichnet. Man könnte etwa an die Regimentstochter oder auch an den kleinen Wickie denken, der den ungehobelten Wikingern zeigt, wo’s langgeht. Lee und Byström passen hinsichtlich Lautstärke und stimmlicher Attacke gut zueinander, leisere, feinere Details fielen allerdings ein wenig unter den Spieltisch.

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Claudio Sgura (Jack Rance) und Malin Byström (Minnie)
© Wiener Staatsoper | Michael Pöhn

Damit geht der Preis für die beste Gesangsleistung des Abends an Claudio Sgura als Sheriff Jack Rance. Er war bei der ersten Vorstellung der Serie extrem kurzfristig für Roberto Frontali eingesprungen, doch kommt er mit dieser Partie und auch der Inszenierung bestens zurecht. Vom Typ her kann man sich Stefan Cerny als Bariton und Italiener vorstellen, und auch die dunkle Stimme und hintergründige Figurengestaltung haben die Herren gemeinsam.

Hausdebütant Carlo Rizzi, der für Simone Young einsprang und bereits die erste Aufführung der aktuellen Serie leitete, gilt als Spezialist für die Klassiker der italienischen Opernliteratur und bestätigte diesen Ruf: Unter seinem Dirigat passte alles – was bei den vielen Ensembleszenen und den ständig wechselnden, nur wenige Takte kurzen Melodien keine Kleinigkeit ist. Das Staatsopernorchester spielte so konzentriert wie animiert und vermittelte die kleinen Gesten in diesem Stück mit ebenso viel Einsatz wie die großen Gefühle – ein Genuss.

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