Online Merker Logo

Die internationale Kulturplattform

WIEN/ Staatsoper: TURANDOT (6. Vorstellung)

Wiener Staatsoper: Turandot (Premiere am 7. Dezember 2023 und 6. Aufführung am 22. Dezember 2023)

turandot1
Foto: Wiener Staatsoper/Monika Rittershaus)

Das Bühnengeschehen der glücklosen Neuproduktion von Claus Guth fokussiert gänzlich auf die Präsenz der Turandot, die sich aufgrund einer Traumatisierung in ihrem Schlafzimmer einschließt und zusammen mit ihrem therapeutischen Liebhaber Calàf einen erfolgreichen Seelenheilungsprozess vollbringt, sowie auf das sie umgebende sog. „stahlharte Gehäuse der Hörigkeit“. Mit der konsequenten Hervorhebung des Innenlebens der Prinzessin und der strikten Ablehnung exotischer Massenszenen gelingt hier eine entorientalisierende Wiedergabe, die unabhängig von der originalen Lokalisierung in China allgemein gültige Muster zwischenmenschlichen Verhaltens offenlegt: Der erste Akt wird ins Wartezimmer zur Praxis Sigmund Freuds verlegt und ist von diversen Videoeinspielungen der erdrückend allgegenwärtigen Figur Turandots geprägt, während die strikt in schwarz gekleideten Angehörigen des unbekannten Prinzen und die Choristen für die meiste Zeit aus dem Bühnengeschehen verbannt werden, um den Blick ausschließlich auf die Titelheldin zu lenken. Nach dem Szenenwechsel findet Turandot den unbekannten Prinzen, Therapeuten und Liebhaber in ihrem Schlafzimmer bzw. in der Praxis vor, der nach der überstandenen Prüfung zu ihr vorzudringen versucht. Die Choreographie und die Einheitskostüme in hellgrün unterstreichen die absolute Konformität der Masse wie der Minister und karikieren immer wieder das rege Treiben der bürokratischen Tötungsmaschinerie, aus der es allerdings punktuell auszubrechen möglich scheint: etwa der surrealistische Mondchor, die Privatszene mit den drei sich entkleidenden Ministern oder die bizarren Stimmungsbilder zu Beginn des dritten Akts.

Doch so klug die initialen Ideen sein mögen und so wort- und lehrreich das Programmheft von einer vielschichtigen Auseinandersetzung mit unterschiedlichen Aspekten des Werkes zeugt, ist deren künstlerische Umsetzung ein einziges Ärgernis. Dabei geht es nicht um die Geschmacksfrage, ob man die einheitlich in hellgrün gehaltene Bühne schön oder hässlich findet (ja sie ist zutiefst hässlich und bemüht sich wie so oft nicht einmal ansatzweise um eine ästhetische Korrespondenz mit der farbenreichen Partitur Puccinis). Auch geht es nicht um die billige Forderung der üblichen Verdächtigen, das Libretto unter Verzicht auf Einsatz jeglicher modernen Hermeneutik wörtlich zu nehmen und ohne interpretierende Leistung bloß korrekt zu bebildern. Es zählt vielmehr nur die Frage, ob das Konzept als Gesamtkunstwerk aufgeht, und das tut es schlicht nicht, Regietheaterdiskussionen hin oder her.

Die Intuition des Regisseurs, dass es sich bei Turandots Erzählung in In questa Reggia, or son mill’anni e mille („In diesem Schloß, vor vielen tausend Jahren“) um einen subtil verdeckten biographischen Selbstbezug handeln könnte, ist dabei psychoanalytisch überaus plausibel. Die von Guth gezogene Schlussfolgerung, dass eine derart schwer traumatisierte Patientin gegen ihren Willen (Turandot wird die Decke abgezogen, während sich die vier Puppten beschützend einzugreifen versuchen) durch einen Kuss eines kürzlich kennengelernten Therapeuten/Liebhabers geheilt werden kann, scheint allerdings nicht nur absurder als das ohnehin komische Original, sondern wird in einem psychotherapeutischen Kontext selbst zu einem Übergriff, der die Wandlung und das vermeintliche Happy End ad absurdum führt. Angesichts der ganzen Assoziationskette, die die Praxistür im ersten Akt zur Psychotherapie aufmacht, zeigt sich letztlich ein überraschend banales Bild derselben, das Puccinis Ringen mit Brüchen und Abgründen der menschlichen Seele nicht gerecht wird und nichts mit einer klugen Modernisierung einer unlogischen Märchengeschichte zu tun hat.

Da hilft die Originalfassung Franco Alfanos – eine in sich wunderbare, prächtig orchestrierte, an seine unbedingt hörenswerte erste Symphonie erinnernde, die sich für vieles mehr Zeit lässt und an den Schlüsselstellen mehr Innehalten erlaubt als die von Toscanini sträflich gekürzte – auch nicht weiter. (Zur surrealen Ausstattung hätte übrigens die ebenso orchestrierte Version von Berio besser gepasst.) Für einen, der dem sog. Regietheater als solchem nicht ideologisch feindlich gegenübersteht, ist diese Produktion besonders bedauerlich: Indem Guth von einer genialen Idee ausgehend eine halbherzige psychoanalytische Deutung vorlegt, ist damit die spannende Chance vertan, gerade die Diskontinuitäten eines schwierigen Heilungsprozesses dialektisch aufzuzeigen, sie mit unterschiedlich motivierten Figuren im Stück zu konfrontieren und zum Schluss auf das absurde Ende nach dem Tod Liùs in irgendeiner Weise kritisch Stellung zu beziehen.

Überhaupt glättet Guth, wie er selbst im Programmheft zugibt, indem er den dritten Akt zu einer nicht vorhandenen Einheit konstituiert, das unvollendete Werk genau über jene entscheidende Bruchstelle hinweg, an deren Herausforderungen kein geringerer als Puccini selbst gescheitert war: die Liù-Frage und die absolute Unmöglichkeit, auf den Tod der wahrhaften liebenden Liù eine Steigerungsform der Liebe und die unerklärliche Persönlichkeitswandlung Turandots auszukomponieren. Dabei hatte Marco Arturo Marelli diesen schwierigen Aspekt zum Dreh- und Angelpunkt des Konzepts seiner wunderbaren Vorgängerproduktion erkoren und durch die Dopplung der Figur des Calàf mit dem nach einem versöhnlichen Ende ringenden Komponisten eine plausible und vor allem eine ästhetisch befriedigende Lösung gefunden. Auch die Behandlung der drei Minister in Puccinis in Gianni Schicchi perfektionierten Buffostil hatte bei Marelli mit dem Bezug auf die Commedia dell’arte einen angemessenen Rahmen und eine aus der Musik heraus entwickelte Choreographie erhalten.

Ja, die Inszenierung aus der Musik heraus zu entwickeln bedeutet auch, sich mit akustischen Gegebenheiten ernsthaft auseinanderzusetzen: Etwa im Rahmen der Behandlung der Chormassen den von Thomas Lang meisterhaft einstudierten Staatsopernchor mit Attila Mokus als Mandarin nicht im ersten Akt vor der Bühne zu platzieren und im zweiten genau darunter (!), um Puccinis meisterhafte Dramaturgie im Spannungsaufbau gegen Ende des zweiten Akts akustisch zu konterkarieren. Weiters: auf das Ungleichgewicht im Stimmvolumen der beiden Protagonisten Rücksicht zu nehmen – bei der letzten Vorstellung klangen die beiden im dritten Akt komplett anders, als sie den vorderen Bühnenteil einnahmen (als hätte man sich fast der modernen Hilfsmitteln bedient, die davor dem Chor zur Verfügung gestanden waren). Oder die drei Minister – überragend Martin Häßler als Ping, besonders am 22. Dez., an dem er einen der bisher besten Abende hatte; Norbert Ernst mit einer köstlichen Charakterstimme als Pang; Hiroshi Amako als Pong, schauspielerisch und mimisch aus dem Vollen schöpfend – so zu platzieren, dass die durchaus anspruchsvollen Stellen im Zusammenspiel bei der Premiere nicht so weit auseinander klingen wie bei einer ersten Ensembleprobe. Manch einem Minister – sie konnten es bei aller Professionalität, mit der sie selbst unter widrigsten Verhältnissen ihr Tun veredelten, nicht verbergen – gefiel die Choreographie offensichtlich nicht besonders…

Schließlich die der wahrhaftig liebenden Liù zugeteilten berührenden Musik nicht schamlos zu ignorieren, indem man sie zu irgendeiner dunklen Macht in der Seele und damit zu einer „Trägerin einer Funktion“ und „Konstrukt“ (S. 18) degradiert, “trotz (!) der ergreifenden Musik, die Puccini für sie geschrieben hat“ (ebd.). Wenn Liùs Tod die Heilungsvoraussetzung der traumatisierten menschlichen Seele darstellt und sich niemand auf der Bühne von ihrem Tod beeindruckt zeigt (der Chor sieht es nicht, Calàf steht oben gefesselt, Turandot schläft vertikal im Bett), woher rührt dann aber die Tragik der Trauermusik? Die von Dan Paul Dumitrescu, einem der ältesten Schätze in unserem Ensemble aus der Holenderzeit, ergreifend gesungene Trauerszene Timurs gerät in dieser Konstellation zu einer kontextlosen Lamentation und reiht sich zusammen mit der „wahrscheinlich langweiligsten Rätselszene, welche jemals für eine Turandot-Produktion ersonnen ward“ (Der Merker), in eine der für eine Turandot-Aufführung viel zu zahlreichen gefährlichen Längen ein. Weitaus tragischer als ein so beiläufig dargestellter Selbstmord Liùs stimmte mich letztlich der Gedanke, wie viel dramaturgische Arbeit, wie viel konzeptionelle Durchdringung, wie viel Detailarbeit aufgebracht werden musste, um letztlich eine derart minutiös durchdachte ästhetische Zumutung zu produzieren.

Die musikalische Seite vermag nicht über diese szenischen Störfaktoren hinweg zu begeistern, auch wenn sich eine deutliche Steigerung bis zur letzten Aufführung am 22. Dez. abzeichnete. In der Matinée am 26. November 2023 hatte sich Dr. Roščić über die „Pseudofachleute“ lustig gemacht, die „zu erklärten versuchten, dass Jonas Kaufmann keinen Tristan singen könne“, und lobte ihn dafür, dass er sich „nie um Stimmfächer geschert“ habe (siehe Minute 1:27:00). Sicherlich sind die beliebigen Meinungen der Opernliebhaber, dieser Text ausdrücklich eingeschlossen, für die professionell ausgebildeten und tagtäglich mit vollem Einsatz auf der Bühne stehenden Künstler irrelevant. Ob indessen die Einteilung im Fächer eventuell langfristig stimmhygienisch bedeutsam werden könnte und ob eine Rolle wie Tristan nicht doch einer Stimme nicht spurlos vorbeigehen würde, müsste sich der Tenor mit einer einst wunderbaren Stimme, deren technische Beherrschung außer Frage steht, angesichts einer derart unbefriedigenden Turandot-Aufführung für sich selbst beantworten. Immerhin zeigt er sich wie in Otello in der Lage, die Kräfte bis zum Schlussduett so klug einzuteilen und dort in der angenehmeren Lage und im vorderen Bühnenteil aufzublühen, insbesondere in der letzten Aufführung am 22. Dez. Trotzdem hinterlässt die relativ kleine und immer wieder bis zur Unhörbarkeit zugedeckte Stimme einen recht angestrengten Eindruck und bleibt nicht nur beim fehlenden hohen c (in ossia…) hinter den Erwartungen zurück, die man einem Premieren-Calàf in Wien stellen dürfte. Aufhorchen lässt hingegen Jörg Schneider, für die kleine Rolle des Altoum eine absolute Luxusbesetzung, beim Turandot-Ruf des persischen Prinzen mit einem echten Calàf-Timbre.

Selbiges trifft auf das mit Spannung erwartete Rollendebüt von Asmik Grigorian zu. Thomas Prochazka hatte in der Pflichtlektüre ( https://lmy.de/SrGR) für jeden Opernliebhaber (und manche Intendanten) minutiös und mit profundem technischen Wissen dargelegt, was an dieser Stelle nicht wiederholt zu werden braucht. So vielversprechend ihr In questa Reggia beginnt, hält ihre Stimme im weiteren Verlauf der Dauerbelastung außerhalb von ca. a1–g2 nicht stand: darunter wenig Substanz, darüber undifferenziert und offen. (Die „Pseudofachleute“ könnten mit ihrem „vokalen Schulbladendenken“ darauf hinweisen, dass es sich bei dieser Rolle um eine dramatische handelt und keine lyrische.) Allerdings zieht sie das Publikum mit ihrer prächtigen Bühnenpräsenz und der hingebungsvollen Verschmelzung mit der von Guth konzipierten Figur in den Bann und würdigt den Therapieprozess mit einer glaubhaften Darstellung ihrer Wandlung. Sieht man von älteren Aufnahmen ab, wird man heutzutage ohnehin leider keine viel bessere Turandot finden können. Kristina Mkhitaryan erbringt eine solide Leistung, wie sie ein durchschnittliches Ensemblemitglied in Wien erbringen können sollte, mit einer beeindruckenden Höhensicherheit, allerdings mit so wenig Substanz unterhalb des Passaggio, dass jede Phrase in Signore, ascolta! wegbricht. Eine wirklich aktive Rollengestaltung bleibt ihr wohl auch aufgrund der Inszenierung verwehrt.

Am meisten gesteigert hat sich aber wohl der Dirigent Marco Armiliato, der für den erkrankten Franz Welser-Möst eingesprungen ist: In der Premiere machte er einen ungewohnt disparaten Eindruck und ließ das symphonische Element in der Partitur, wie es einst Frédéric Chaslin (2018) oder Ramón Tebar (2020) in voller Pracht zum Erklingen brachte, vermissen, indem er ob der zu großzügigen Rücksichtnahme auf die schwachen Sängerleistungen auf der Bühne bremste und schleppte. In der Aufführung am 22. Dez. fand er eine herrliche Balance zwischen der vorwärtstreibendem Symphonik und der rücksichtsvollen und zuhörenden Begleitung. Der Star dieser Premierenserie ist jedenfalls das Orchester der Wiener Staatsoper, das wie kein anderer Klangkörper auf der Welt genau diese Balance mit einer unglaublichen Selbstverständlichkeit verkörpert und selbst in den ohrenbetäubenden Ausbrüchen des zweiten Akts mit einer meisterhaften Homogenität transparent bleibt. Dem Orchester, und nur ihm, gebührt in dieser Aufführungsserie das Prädikat Weltklasse.

Doch für eine als erfolgreich zu nennende Premiere eines zentralen Stücks des Repertoires reicht dies alles selbstverständlich nicht, die noch dazu als offene Provokation am Eröffnungsabend der Mailänder Scala angesetzt war. Freilich bescherte auch unter Holender und Meyer nicht alles, was den Anspruch auf die Weltklasse erhob, eine Sternstunde; doch keiner der beiden brachten das Kunstwerk zustande, so konsequent beinahe jede Premiere in den Sand zu setzen. Wohlgemerkt, nicht jeder, der sich am Premierenabend am größten Buhorkan gegen den Regisseur der letzten Jahre beteiligte, ist ein konservativer Kulturkämpfer, dem bloß nicht genug umerziehende Maßnahmen im modernen „Regietheater“ zuteilgeworden sind. Nein, das langjährige Stammpublikum erinnert sich dankbar an Willy Deckers (Die tote Stadt), Christine Mielitz’ (Peter Grimes), David Pountneys (Osud), Marco Arturo Marellis (alles) oder Irina Brooks (A Midsummer Night’s Dream) musikalisch wie szenisch gelungene, in sich stimmige und ästhetisch wegweisende Neuproduktionen in diesem Hause und singt manchen recht leicht zu begeisternden Neuankömmlingen: „In questa Reggia, or son vent´anni o dieci“…

Kohki Totsuka, MA

 

 

Diese Seite drucken