Der 2006 gestorbene und vor 100 Jahren geborene Komponist György Ligeti hat nur eine Oper geschrieben – „Le Grand macabre“. Das ehemals bürgerschreckende Stück hat zwar als wild krakeelende Anti-Anti-Oper einigen Staub angesetzt, trotzdem wirbt die Wiener Staatsoper für ihre Erstaufführung der großen Makabren mit „Sex, Alkohol und Arien“. Sie weiß halt, auf was die Musiktheaterklientel abfährt. Denn im Grunde gelten genau diese Ingredienzen ja für einen Großteil des Repertoires.
Ligetis „Breughelland“ ist abgebrannt. Oder es wird bald abbrennen. So wird es jedenfalls am Beginn dieses fröhlich lauten, anarchisch-albernen, mit Autohupenkrach anhebenden Zweiakters prophezeit. Das Libretto schrieben der Puppenspieler Michael Meschke und Ligeti nach „La Balade du Grand Macabre“ von Michel de Ghelderode aus dem Jahr 1934.
Die Uraufführung war 1978 in Stockholm. Doch wie es so ist, die angesagten Weltuntergänge finden in der Regel nicht statt. In ein imaginäres, korruptes Schlaraffenland – „verfressen, versoffen und verhurt“ – platzt der Tod alias Nekrotzar alias der dämonische Große Makabre, um die unmittelbare Zerstörung der Welt und der frivolen Menschheit zu verkünden.
Doch da treiben es schon sadistische Paare und der gefräßige Piet vom Fass bunt. Dazwischen spioniert der koloraturhysterische Chef der Geheimpolizei des Fürsten Go-Go. Durch die ihm unbekannten Gelüste des Lebens verführt wie überwältigt, stirbt am Ende ausschließlich Nekrotzar selbst. Alle anderen gelangen zur Erkenntnis, dass ihr vorläufiges Überleben zur Beibehaltung herrschender Zustände genutzt werden sollte, und so beruhigt der Schlusschor: „Fürchtet euch nicht!“
Das locker vor sich hin daddelnde Stück ist voller Zitate, derber Szenen, alberner Witze. Sprechtexte, extreme Koloraturarien, Slapstick, rhythmisch komplizierte Ensembles und kabarettartige Szenen waren mal Herausforderung, heute sind sie ein Fressen für die hochbeweglichen Darsteller.
Das große, stark geforderte Orchester ist um viel Schlagwerk und Tasteninstrumente erweitert. Ligeti wechselt zwischen Reihenstrukturen, Clusterbildungen und Klangflächen ähnlich denen in „Atmosphères“, zitathaften Phrasen, rhythmisiertem, die Sprechmelodie nachzeichnenden Gesang und gestenreich comicartiger Filmmusik.
Jegliche Skandalsubstanz verloren
Ligeti überarbeitete sein Stück bereits 1996 für Salzburg. Da wurde etwa aus dem Liebespaar Clitoria und Spermando das sittsamere Duo Amanda und Amando. Vorher schon hat er drei Arien für den Konzertgebrauch unter dem Titel „Mysteries of the Macabre“ herausgegeben. Die erfreuen sich bei Koloratursopranistinnen steigender Beliebtheit, besonders die sich selbst dirigierende Barbara Hannigan macht darin in supersexy Kostümen Furore.
Auch wenn „Le Grand Macabre“ als Provokation längst jegliche Skandalsubstanz verloren hat, durch ironische Distanz, Verfremdung und eine durchgehende Doppeldeutigkeit, die „den Ernst humoristisch und das Komische todernst nimmt“, lässt sich sein kursorisches Grundthema – Aufhebung der Angst und Triumph des Eros – als eine Art von „hyperfarbigem, comicartigem Geschehen“ (Ligeti) darstellen, „in dem die Charaktere und Bühnensituationen direkt, knapp gehalten, unpsychologisch, verblüffend und doch ganz sinnlich sein sollten“.
Nun ist das mit der Sinnlichkeit auf der Szene so eine Sache. In Frankfurt entfernt sich (was Ligeti sicher nicht gemocht hätte, dem Stück aber guttut) Regisseur Valery Barkhatov von der mittelalterlich-deftigen Vorlage, zieht das Geschehen konsequent ins Nachrichten-Heute, wo jeder den Anflug des fatalen Kometen auf diversen medialen Endgeräten verfolgen kann. Denn alle stehen unter einer Betonbrücke im Stau, haben Stress.
Der Makabre (laut: Simon Neal) erweist sich als Leichenwagenchauffeur, der in einem Sarg das lesbische, aber trotzdem männlich und weiblich konnotierte Brautpaar Amando und Amanda (allerliebst: Elizabeth Reiter und Karolina Makuła) transportiert. In seinem Camper sitzt der Astrologe Astradamors (Alfred Reiter) vor uralten Computerspielen, seine ihn sexuell kujonierende Gattin Mescalina (Claire Barnett-Jones) rastet sinnlich unausgefüllt aus. Und Piet vom Fass (Peter Marsh) feixt sich eins.
Während Frankfurts neuer GMD Thomas Guggeis dem Orchester ordentlich feixend Zunder gibt, Krawall und Kunstgetöse aber fein artifiziell aufspreizt, lässt Barkathov den Fürsten Go-Go (Eric Jurenas) in seinem Casino Royal des zweiten Aktes in einer wilden Maskenorgie auf dem Vulkan tanzen, während der schlappe Chef der Gepopo (höhensichere Klanglustgleiterin: Anna Nekhames) in der Schubkarre herumgefahren wird und fette Engel eine Passacaglia muszieren.
Am Ende ist dann unvermittelt Schluss mit lustig, auch wenn hier alle weiterhin einem doch noch sicher entfernten Ende entgegentaumeln dürfen. Nur Nekrotzar glotzt Kriegsvideos. Viel Wirkung, aber keine Moral. So verbringt man in Frankfurt trotzdem etwas mehr als zwei unterhaltsame Spielstunden in englischer Sprache.
In Wien singt man hingegen auf Deutsch, trotzdem ist es dort furchtbar fad und erschreckend harmlos. Denn während Pablo Heras-Casado selbst bei so spröder Musik den luxuriösen Wohlklang des Staatsopernorchesters gewähren lässt, ja ihn rhythmisch raffiniert sogar noch in den Blechfürzen nonchalant exponiert, inszeniert der Choreograf Jan Lauwers eine völlig unentschlossene, deutungsresistente, optisch banale, ja muffige Farce.
Verlorene, arg traurige Gestalten
Da müssen das Singpersonal plus zwölf Tänzer dauerzucken und sich verbiegen, man trägt Kostüme in Commedia dell’Arte-Manier, auf farblosen Paneelen wird bisweilen ein echtes Brueghel-Wimmelbild projiziert. Nekrotzar (mit famoser Darstellerwucht: Georg Nigl) plumpst aus einem goldenen Würfel, der so wenig meint wie sein schlaff aufgeblasenes Ballonpferd.
Die etwas schrille Sarah Aristidou als Chef der Gepopo im absurden Riesenreifrock, der arg liebe, in einer Pizzeria residierende Andre Watts (Fürst Go-Go), Marina Nazarova (Amanda), Isabel Signoret (Amando), Wolfgang Bankl (Astradamors), Marina Prudenskaya (Mescalina) und Gerhard Siegl (Piet vom Fass), sie alle mühen sich um plastische Charaktere, sind aber im sinnenfreien Spielraum verlorene, arg traurige Gestalten.
Mal sehen, Mitte und Ende Juni 2024 steht „Le Grand Macabre“ zwei weitere Premierenmale in Prag und zur Eröffnung der Münchner Opernfestspiele auf dem Programm. Ob diese allzu verkrähte Apokalypse als dann doch kleinkleines Welttheater danach gerettet sein wird oder endgültig auf der Repertoire-Resterampe landet?