Skurril-realer Weltuntergang: Vasili Barkhatov inszeniert in Frankfurt „Le Grand Macabre“

Oper Frankfurt/LE GRAND MACABRE/Simon Neal (Nekrotzarund Statisterie der Oper Frankfurt/Foto @ Barbara Aumüller

Die Realität ist seltsamer als Fiktion, das weiß der Volksmund schon lange. Zum 100. Geburtstag von György Ligeti bringt die Oper Frankfurt die „Anti-Anti-Oper“ des Komponisten unter musikalischer Leitung des neuen Generalmusikdirektoren Thomas Guggeis auf die Bühne. Vasili Barkhatov inszeniert das Stück als Portrait einer Gesellschaft kurz vor dem Untergang. (Besuchte Vorstellung am 18. November 2023)

 

 

Vor knapp 45 Jahren brachte György Ligeti in Stockholm mit Le Grand Macabre eines seiner erfolgreichsten Werke zur Uraufführung. Es ist bis heute regelmäßig auf den Spielplänen der Opernhäuser zu finden. In seiner einzigen Oper veränderte der Komponist seine bis dahin geprägte Klangästhetik und besann sich zurück auf traditionellere Formen der Musik. Dennoch erschuf Ligeti eine ganz eigene, manchmal comicartig anmutende Tonkunst. Seine avantgardistische Musiksprache beibehaltend, ist ihm mit dieser karikierend-grotesken „Anti-Anti-Oper“ – das konventionelle Theater gleich doppelt negierend, um es so doch wertzuschätzen – ein Geniestreich gelungen. Als literarische Vorlage diente dem Komponisten eine Erzählung des absurden Theaters von Michel de Ghelderodes. Es ist ein bizarres wie rätselhaftes Werk über einen angekündigten und dann doch nicht eintretenden Weltuntergang.

Während das Libretto mit politisch, sexualmoralischen Anspielungen ganz in seiner Entstehungszeit verhaftet ist, schafft der Regisseur Vasili Barkhatov eine modernere, zeitlosere Bühneninterpretation. Dafür gibt der Regisseur Ligetis höllischen Gestalten bodenständige, irdische Biografien. Der Weltuntergangsprophet Nekrotzar ist Bestatter mit apokalyptisch, prosaischen Ambitionen, Piet vom Fass ein vom Weltuntergang im Hotelbademantel überraschter Weinhändler. Amanda und Amando sind frisch der Schönheitsklinik entflohen und können die Hände nicht voneinander lassen, während Astradamors und Mescalina als sittliches Ehepaar, das im Angesicht des nahenden Endes aus der biederen Welt ausbrechen möchte und erstmals halluzinogene Drogen nimmt, auftreten. Sie alle treffen dort aufeinander, wo jeder Hollywood-Weltuntergangs-Blockbuster ebenfalls seinen Anfang nimmt: Im Stau auf einer Autobahn. Das passt ganz vortrefflich zu Ligetis Autohupen-Vorspiel, welches sich so nicht nur klanglich aus dem Orchestergraben, sondern auch sinnbildlich auf der Bühnenrealität wiederfindet.

Oper Frankfurt/LE GRAND MACABRE/Anna Nekhames, Simon Neal, Statisterie der Oper Frankfurt/ Foto @ Barbara Aumüller

Vor gewaltiger Kulisse eines amerikanischen Highways – das Bühnenbild stammt von Zinovy Margolin – entspinnt sich ein zunächst fast episodenhaftes Spiel über das Verhalten verschiedener Personengruppen mit dem vermeintlich sicheren Ende in Sicht. Hier ist es nicht die teuflische Gestalt des Nekrotzar, der das Weltende verkündet, sondern Nachrichtensprecher aus aller Welt auf übergroßen Werbebildschirmen. Anstatt die Fäden in der Hand zu halten, werden so alle Protagonisten zu gleichfalls Betroffenen der äußeren Geschehnisse – und reagieren ganz unterschiedlich. Es ist keine bissige Gesellschaftssatire, sondern eher ein Blick auf menschliches Verhalten im Angesicht des Untergangs, das hier gezeigt wird. Die einen flüchten sich in die Zweisamkeit, die anderen in eine wilde Partynacht – und manch einer probiert dabei Dinge aus, die im sonst allzu braven Leben keinen Platz fanden. Doch irgendwas fehlt.

Regisseur Barkhatov überdeckt mit zweifellos grandiosen Bühnenbildern, knalligen Kostümen, technischen Finessen und bunter Beleuchtungsshow manch szenisch Leerlauf, der sich vor allem in der zweiten Hälfte des Stückes bemerkbar macht. Da wütet Fürst Go-Go wie der Rote Tod in Edgar Allan Poes Erzählung in dekadenter Endzeitmanier im federbesetzten roten Paradiesvogelkostüm. Jede volle Stunde schlägt die Uhr und erinnert wie ein Memento Mori an die unausweichliche Sterblichkeit der Feierlaunigen und deren bevorstehendes Ende, die im Angesicht ihrer baldigen Auslöschung immer lauter feiern, schneller tanzen und sich zur Apokalypse — einem letzten Höhepunkt — kulminieren wollen. Das bietet Raum für Spielereien – Stichwort: regenbogenspeiende Einhörner oder Elton John am Cembalo – doch ermüdet dieser Ansatz vor allem während der Weltuntergangsparty im dritten Bild erstaunlich schnell. Hier geht das kammerspielartige der ersten Akte zugunsten großer Massenszenen verloren. Statt Akzente zu setzen, treibt das Geschehen vor sich hin, ehe es schließlich zum absoluten Anti-Klimax – dem verpassten Weltuntergang – kommt.

Dabei lebte die Erstaufführung von Le Grand Macabre an der Oper Frankfurt nicht zuletzt sowohl vom spielfreudigen Ensemble des Hauses als auch vom Klangorganisationstalent seines neuen Generalmusikdirektors. Feierte Thomas Guggeis zu Beginn dieser Spielzeit seinen Einstand mit einem Klassiker des Opernrepertoires, Mozarts Le Nozze di Figaro, bedient der junge Dirigent mit Ligetis Werk auch jenes Repertoire an Zeitgenössischem, Raritäten und Gewagtem, mit dem das Frankfurter Opernhaus auch immer wieder international Aufmerksamkeit erregt.

Oper Frankfurt/LE GRAND MACABRE/Eric Jurenas und Ensemble/Foto @ Barbara Aumüller

Unter Guggeis Leitung wirkte die avantgardistische Komposition mit ihrem umfangreichen Schlagwerk erstaunlich zugänglich. Erwartungsgemäß schräg, schrill und teils an den Nerven des Publikums zerrend laut dröhnten die Klänge aus dem Orchestergraben und später auch von den Fluren des Opernhauses. Der neue Generalmusikdirektor bewies sich aber als fähiger Bändiger der Klangmassen, die er stets auszubalancieren und auszugleichen wusste. Dabei zeigte er sich als selbstbewusster und souveräner Klangorganisator, der das Abgründige und Experimentelle des Werkes betonte. Mit kühlem Kopf ordnete Guggeis all das Komplexe und Absurde und verlieh dem Irrsinn der Partitur Ausdruck. Das Frankfurter Opern- und Museumsorchesters folgte seinem neuen Chef dabei mit einer in der Vergangenheit nur selten erreichten Akkuratesse in der Artikulation. Humor gilt bekanntlich als Königsdisziplin des Theaters. Mit bewusst gesetzten Akzenten gelang es Dirigent und Orchester das Opernpublikum durch bloße Ausdrucksmittel der Musik mehr als einmal zum Kichern zu verleiten. Am Ende erhielten sie dafür vom Publikum den lautesten Applaus des Abends.

Nicht nur im Orchestergraben gilt bei Le Grand Macabre vom ersten bis zum letzten Ton Teamarbeit. Auch die Sänger:innen auf der Bühne, die in dieser Inszenierung ebenso schauspielerisches Können beweisen müssen, zeigten eine grandiose Mannschaftsleistung. Auch wenn Ligeti in seiner Komposition immer wieder traditionellere Opernformen zitiert – unter anderem steht eine ausgiebige Koloraturarie im Mittelpunkt des Werkes – sind die Leistungen der Sänger:innen kaum unter traditionellen Opernmaßstäben zu bewerten. Besonders Anna Nekhames quirlige Koloraturen als Venus / Chef der Gepopo und Simon Neals erschütternde Darstellung des Nekrotzars mit kraftvoll, rauer Baritonstimme oder auch Eric Jurenas sicher sitzende, zugleich klangschöne Countertenor-Stimme ließen diese Frankfurt Ligeti-Erstaufführung einen großen Erfolg werden!

 

  • Rezension von Svenja Koch u. Phillip Richter / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Opernhaus Frankfurt / Stückeseite
  • Titelfoto: Oper Frankfurt/LE GRAND MACABRE/Eric Jurenas (Fürst Go-Go) und Ensemble/Foto @ Barbara Aumüller

 

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