„Absurder Befreiungsschlag“
(Dominik Troger)
Auch
beim vierten Versuch ist es Nekrotzar nicht gelungen, Breughelland und
seine Bewohner zu vernichten – ob es ihm beim fünften Versuch gelingen
wird? Am Donnerstag hat er noch einmal die Gelegenheit dazu. Dann ist
die Premierenserie von „Le Grand Macabre“ an der Wiener Staatsoper auch
schon wieder Geschichte.
Natürlich
hätte man sich ein Dutzend Aufführungen gewünscht, fein portioniert und
über die Saison verteilt, damit man je nach Gusto und mit ein bisschen
Abstand György Ligetis
vermeintlichen Weltuntergang hätte verköstigen können. Dabei wäre es
weniger darauf angekommen, mit spielerischer Forschungsfreude die
musikalischen Zitate seiner Komponistenahnen zu entdecken, die Ligeti
in der Partitur versteckt hat, sondern diesem Werk selbst mit ganzem
Herzen „zuzuwachsen“. Und wenn man sich auf dem Heimweg plötzlich dabei
ertappt hätte, wie die Beine sich nach der Passacaglia ausrichten, und
dass man aufpassen muss, von den Passanten nicht für einen schwankenden
Adepten des Piet vom Fass gehalten zu werden, dann wäre die Musik
wirklich in der eigenen Seele angekommen.
Aber die Sachlage ist ernster, als den Anschein hat. Zuerst drängt sich
vor allem der parodistische Effekt in den Vordergrund, der sich leicht
nachvollziehen lässt, wenn der Schlagwerker mit einem Holzhammer
ausholt oder die Autohupen gleich am Beginn eine „Umwertung aller
Werte“ postulieren. Ein großes Spektakel scheint sich vor einem
auszubreiten, und der erste Höreindruck wird einem Teil des Publikums
bei so viel „überstrapaziertem“ Humor vielleicht schon genug gewesen
sein.
Aber bei der dritten oder bei der vierten Begegnung wandelt sich
Nekrotzar vom brutalen Maulhelden vielleicht zur Karikatur eines
Despoten, zum Versuch Ligetis (Jahrgang 1923!), den Schrecken
selbsterlebter europäischer Geschichte in eine Fratze zu bannen, um der eigenen
Erinnerung zu entkommen. Das wäre natürlich ein verzweifelter
Selbstbetrug, der sich hier abspielt, der aber zumindest einen Funken
an Hoffnung übrig ließe, zumindest für die Dauer, die es benötigt, bis
Piet vom Fass wieder eine Flasche guten Rotweins geleert hat. Sobald
sich das Gefühl für die Doppelbödigkeit von „Le Grand Macabre“
einstellt, so bald erkannt wird, dass sich hinter der Absurdität ein
Täuschungsmanöver verbirgt, erschließt sich einem die eigentliche Größe
dieses Werks. Dann wird „Le Grand Macabre“ plötzlich zum
Befreiungsschlag, zu einem anarchischen „Jetzt-erst-recht“, das vom
Publikum zuerst einmal „verdaut“ sein will.
Hat Georg Nigl ähnliches
nicht angedeutet, mit spezifisch bedeutungsschwangerem Tonfall
und großer Gestik, zu der sein Nekrotzar immer wieder ausgeholt
hat? Ein „Westentaschen-Napoleon“, ein „Westentaschen-Hitler“, ein
„Westentaschen-Stalin“ dessen demagogische Größe vom Suff der
Breughelländer entlarvt wird? Dass diese Breughelländer dabei auch
ziemlich besoffen sind, steht auf einem anderen Blatt, und belegt nur
den in vielen Notenköpfen von „Le Grand Macabre“ lauernden Nihilismus,
den Ligeti nicht nur mit Autohupen, sondern auch mit Klingeln, einem
Holzhammer und, und, und … an seinem Platz zu halten sucht, damit er
aus ihnen nicht herauskriecht wie Nekrotzar aus seinem Grab.
Auch wenn Nigls Bariton für die Partie vielleicht eine Spur zu lyrisch ist, an diesem Abend –
der vierten Vorstellung der Premierenserie – dachte ich mir, dass er
vielleicht ähnliches ausdrücken wollte, dass Nekrotzar als
verniedlichte „Hitlerfratze“ durch diese Oper geistert, so als wollte
Ligeti einem von der Historie längst in den Mythos hinübergewechselten
„Bösen“ das Wasser abgraben und es mit einer aufwendigen musikalischen
Geisterbeschwörung bannen. Und werden die bösen Geister nicht oft mit
Lärm und Radau vertrieben? Man denke nur an das alpenländische
Brauchtum samt alkoholischer Mutzusprechung.
Gerhard Siegl als Piet von Fass, Wolfgang Bankl
als Astradamor und Georg Nigls Nekrotzar profilierten sich an diesem
Abend als ein Kleeblatt des Absurden, sehr gut in der Feinabstimmung
ihrer Charaktere, die tragende Achse, an der man den Abend ausrichten
konnte – von einem Orchester unter der Leitung von Pablo Heras-Casado begleitet,
das inzwischen seine Ligeti-„Muskel“ so weit trainiert hat, dass es
Attacke und Gefühl dosierend, die Partitur nicht mehr nur exekutiert,
sondern „spielt“. Dann umgibt sogar abstraktes „Atmosphären“-Schillern
eine hauchdünne poetische Sinnlichkeit.
Im Übrigen haben sich die Eindrücke von der Premiere weitgehend bestätigt. Das „Tanztheater“, in das die Inszenierung von Jan Lauwers
„Le Grand Macabre“ eingebettet hat, ist großartig gearbeitet, lenkt die
Aufmerksamkeit aber auf zu viele Details und nimmt der ganzen
„Versuchsanordnung“ ihre Schärfe. Es ist bei einem Teil des Publikums
jedoch sehr gut angekommen wie am starken Applaus für die Tanzcompagnie
abzulesen war.
Das Haus war sehr gut besucht und die Abogruppe 22 hat sich nicht
abschrecken lassen. Auf dem Galeriestehplatz waren viel mehr
Besucher als unlängst beim „Figaro“. Der Publikumsschwund in der Pause
hielt sich in engeren Grenzen als erwartet – und der Schlussbeifall lag
bei rund acht Minuten.