Bayerische Staatsoper: „Le Nozze di Figaro“ – Figaro auf dem Fetischthron

Bayer. Staatsoper/ LE NOZZE DI FIGARO/A. Amereau, L. Alder, E. Dreisig/ Foto © Wilfried Hösl

Evgeny Titov will sich in seiner Neuinszenierung von Le Nozze di Figaro der Frage widmen, „warum sich unsere Humanität immer wieder als brüchig erweist und wo die Bruchstellen liegen“, konzentriert sich auf der Bühne aber zu viel auf Sexspielzeuge und Hanfplantagen, um der Antwort auf diese Frage auch nur einen Schritt näher zu kommen. Was sich an diesem Abend lohnt, ist die Musik: Fesselnd dirigiert von Stefano Montanari und vom außergewöhnlich jungen Ensemble grandios gesungen wird der Abend akustisch zu einem Erlebnis. (Rezension der GP vom 27. Oktober 2023)

 

Zunächst etwas Erfreuliches: Die Generalproben der Bayerischen Staatsoper sind mit Beginn der aktuellen Spielzeit ganz offiziell zugänglich für junges Publikum. Unter dem Titel „Sneak Preview“ wird auf der Website für die Probenbesuche von Menschen unter 30 Jahren und damit die Möglichkeit, die Oper in einem lockeren Rahmen und kostenlos kennenzulernen, geworben, Einladung zum Gespräch in der Kantine inklusive, wenn man denn den Absatz zu diesem Thema auf der U30-Seite der Staatsoper findet und per Mail eine Anfrage stellt. Luxuriöser ist das Angebot für Studierende der Ludwig-Maximilians-Universität. Der ganze erste Rang ist exklusiv für die LMU reserviert, die Karten kann man recht einfach über den Kultur-Newsletter der Universität bestellen. Vor dieser ersten offenen Generalprobe gibt es – nur für LMU-Studierende – zusätzlich noch einen Sektempfang im Königssaal, um das neue Kooperation zwischen Hochschule und Oper zu feiern. Staatsintendant Serge Dorny begrüßt die Gäste mit den Worten „Das hier ist nun euer Zuhause“. Während sich vergangene Events für junges Publikum an der Bayerischen Staatsoper nur bedingt durch ihre liebevolle Organisation auszeichneten – mitunter wurde Werbung für bereits vergangene Events ausgegeben – fühlt man sich hier als junger Mensch willkommen. Warum LMU-Studierende gegenüber nicht-Studierenden beziehungsweise Studierenden anderer Hochschulen bevorzugt behandelt werden, leuchtet zugegebenermaßen nicht ganz ein, bestätigt diese Beschränkung doch scheinbar das Vorurteil, dass die Kunstgattung Oper sich ganz besonders an ein akademisches Publikum richtet. Trotzdem ist diese Art von Öffnung gegenüber jungem Publikum sehr zu loben.

Bayer. Staatsoper/ LE NOZZE DI FIGARO/E. Dreisig, H. Montague Rendall/ Foto © Wilfried Hösl

So weit, so gut. Weniger erfreulich ist leider die Interpretation von Wolfgang Amadeus Mozarts Oper Le Nozze di Figaro durch den vor allem im Sprechtheater bewanderten Regisseur Evgeny Titov. Auf der Website der Staatsoper ist recht eindrucksvoll zu lesen, worauf seine Inszenierung hinauswill: Es geht um Machtmissbrauch, um Humanität (beziehungsweise den Mangel daran) und um menschliche Abgründe. Auf der Bühne ist davon dann nicht mehr viel übrig. Da geht es erst einmal vor allem um Sex. Figaro misst den Platz für das Ehebett, das er sich mit Susanna teilen will, mit einem Lederriemen aus, der später für angedeutete BDSM-Spielchen genutzt wird, seine Susanna freut sich unterdessen nicht über einen neuen Hut, sondern über eine schwarze Ledermaske. Der Elefant im Raum ist aber der gigantische pink-blaue Thron, dessen Funktion als Sexspielzeug spätestens während Figaros „Se vuol ballare“ durch eine Selektion an sich bewegenden Dildos offensichtlich wird. Warum der Thron in diesem Zimmer ist, weiß man nicht. Vielleicht hat ihn der Graf aufgebaut, um sich an Susanna vergehen zu können. Gegen diese Theorie spricht, dass Susanna in der ersten Szene deutlich begeisterter von dem Thron als von ihrem Verlobten ist: Figaro wird angemault, der Thron gestreichelt.

Sexualität, Begehren und auch sexuelle Belästigung spielen in Mozarts Oper eine große Rolle, ist doch eine der Prämissen des Werks, dass der Graf das „Recht der ersten Nacht“ abgeschafft hat, jetzt aber doch unbedingt vor der Hochzeit Susannas und Figaros mit der Braut schlafen will und zu diesem Zweck vor keiner Intrige zurückscheut. Auch Machtmissbrauch und die Androhung sexualisierter Gewalt sind im Werk auf diese Weise trotz aller Komik omnipräsent. Die Bedeutung der vielen sexuell konnotierten Elemente in Titovs Inszenierung bleibt trotzdem schwammig. Weil so gut wie jede Figur an irgendeinem Punkt eine Peitsche oder Maske in der Hand hat, wirken die BDSM-Anspielungen eher als eine dauerhafte Illustration, als dass sie zum Erzählen der Geschichte beitragen. Darüber hinaus fragt man sich, ob Titov überhaupt den doch recht gravierenden Unterschied zwischen Fetisch, BDSM und sexualisierter Gewalt verstanden hat, so unklar und doch so eng werden beide Thematiken geführt. Wenn der Graf am Ende selbst auf seinem Fetischthron Platz nehmen muss, führt das die Handlung nicht zufriedenstellend zu Ende. Dass es als das gute, komische Ende präsentiert wird, wenn die Androhung sexueller Gewalt mit sexueller Gewalt bestraft wird – und genau das ist es, jemanden auf diesen Stuhl zu zwingen, egal was diese Person sonst von Fetischmöbeln hält – hinterlässt einen unguten Nachgeschmack.

Denn trotz der ernsten Themen, die er anschneidet, will Titov auch die komischen Elemente des Werks nicht vernachlässigen: Auf der Website heißt es, er widme sich der Nozze mit viel Lust an der Situationskomik. Die Standardgags funktionieren auch, etwa wenn der Graf mit einer überdimensionierten Spitzhacke erscheint, um die Tür zum Versteck Cherubinos aufzubrechen, oder wenn Cherubino ebendort deutlich hörbar rumort und die Gräfin mehr oder minder überzeugend so tut, als habe sie nichts vernommen. Gelacht wird auch, wenn der Graf sich bei seinem ersten Auftritt regelrecht durch Susannas Tür schlängelt und sehr bald darauf die Hose herunterlässt. Was allerdings auffällt, ist, dass die Gags sehr konstruiert wirken. Die Komik ergibt sich nicht aus der Situation heraus. Es fehlt der Inszenierung an Dynamik, was aber auf keinen Fall an mangelnder Spielfreude oder Motivation des Ensembles liegt. Besonders Konstantin Krimmel als Figaro lässt sich einiges einfallen, um Musik, Humor und Handlung zusammenzubringen. Aber vieles, was an Späßen und überhaupt zwischenmenschlichen Aktionen passiert, verliert sich im riesigen Nationaltheater.

Insgesamt hätte die Größe des zu bespielenden Raumes bei der Konzeption der Inszenierung besser bedacht werden können: Auch wie der Graf zu seinem Personal (und andersherum) steht und was im direkten zwischenmenschlichen Kontakt passiert, ist oft nicht eindeutig erkennbar. Zu groß sind die Abstände zwischen den Akteuren untereinander und die zwischen dem Bühnengeschehen und dem Publikum. Dabei ist das Wesen des Agierens der Figuren untereinander doch von großer Bedeutung, wenn das Thema der Inszenierung die Frage nach der Brüchigkeit der Humanität und den Folgen von zu viel Machtkonzentration auf einer Person ist. An und für sich wirkt der Graf bei seinen ersten Auftritten auch eher kurios als bedrohlich, er ist von Anfang eine Lachfigur. Warum man vor ihm und seinen Plänen Angst haben sollte, geht mehr aus dem Gesangstext als aus dem Bühnengeschehen hervor. Dass er im vierten Akt zwei Schüsse in Cherubinos Richtung abfeuert, hilft dann auch nicht mehr. Versucht man, abseits der Figurenaktion Hinweise zu finden, wie sich denn Macht und Machtmissbrauch in der Inszenierung manifestieren, wird man ebenfalls nur teilweise fündig. Die Kostüme von Graf und Gräfin, wie das Bühnenbild entworfen von Annemarie Woods, sind zwar eleganter und modischer als die der übrigen Figuren und zeigen, dass das Ehepaar reicher als die anderen Charaktere ist, aber Geschichten erzählen sie nicht. Woher die Macht des Grafen kommt und wie sie sich manifestiert, das versteht man nicht.

Bayer. Staatsoper/ LE NOZZE DI FIGARO/L. Alder/ Foto © Wilfried Hösl

Sehr stark sind dagegen Woods Bühnenbilder, zumindest die der ersten drei Akte. Wenn auch nicht zum Vorteil der Personenregie, die von den dunklen Wänden des gräflichen Palasts genauso erschlagen wird wie von der Größe des Raums, schreien einem die schwarze Wandfarbe und der Zustand des Gemäuers entgegen, dass hier einiges im Argen ist. Und dann leben Figaro, Susanna und die Gräfin, immerhin auch eine der hochgestellten Personen, in weitgehend identischen, trostlosen Zimmern, die sich nur anhand des Mobiliars unterscheiden: Die Gräfin hat keinen Fetischthron, weil ihr Mann ja nicht hinter ihr, sondern Susanna her ist, dafür ein Sofa und Malerutensilien. Ihre Wand ist in Ansätzen pink gestrichen. Der Graf, dessen Räumlichkeiten den Schauplatz des dritten Aktes bilden, verfügt dagegen über eine Holzvertäfelung, die sein Zimmer deutlich freundlicher als die übrigen wirken lässt. Er gönnt sich selbst also mehr Luxus als den anderen, im Vergleich zu ihm niederer stehenden Schlossbewohnern, inklusive seiner Ehefrau. Im Übrigen betont die etwas strukturiertere Optik dieses Raums auch die Personenhandlung besser. Doch für jede Frage nach der Interpretation von Handlung und Figuren, die durch die eindrucksvollen Bühnenbilder beantwortet wird, stellt sich eine neue, als dann im Übergang zum vierten Akt die hintere Wand des Bühnenbildes nach oben fährt und eine Hanfplantage enthüllt. Ist der Graf eine Art Drogenbaron und kann sich deshalb alles erlauben? Will Titov implizieren, dass eine Handlung wie die von Le Nozze di Figaro ohne den Konsum bewusstseinserweiternder Substanzen gar nicht möglich wäre? Man weiß es nicht.

Zum Glück geht es in der Oper nicht nur um das Inhaltliche und Visuelle, sondern vor allem um die Musik. Und in dieser Hinsicht überzeugt die neue Nozze auf ganzer Linie. Das Bayerische Staatsorchester spielt in Bestform, am Pult steht der Italiener Stefano Montanari, der vor der Dirigentenlaufbahn als Barockgeiger bekannt war. Er nimmt sich viele Freiheiten: Die Begleitung der Rezitative, die er selbst auf dem Hammerflügel spielt, klingt zum Beispiel nur wenig nach Mozart-Oper, sondern mutet beinahe romantisch an. Und doch überzeugt seine Interpretation der Partitur auf ganzer Linie. Schon die Ouvertüre gelingt faszinierend markig. Jedes Motiv, jeder noch so kleine Akzent wird deutlich herausgearbeitet, jeder Ton fesselt. Die Markigkeit behält Montanari im weiteren Verlauf des Abends bei, neben einem recht zügigen Tempo, das aber nur auffällt, wenn man die Oper gut kennt, denn bei aller Geschwindigkeit wirkt die Musik so gut wie nie gehetzt. Auch die Balance stimmt. Das Orchester bleibt im weiteren Verlauf des Abends stets sehr präsent, ohne aber die Sänger zu überstrahlen.

Bayer. Staatsoper/ LE NOZZE DI FIGARO/K.Krimmel, A. Amereau/ Foto © Wilfried Hösl

Das hätte man Montanari auch nicht verziehen. Auf dem exklusiven Generalprobenempfang betont Serge Dorny, wie viel Wert bei der Konzeption des Abends daraufgelegt worden sei, nicht einfach nur gute Sänger zu besetzen, sondern ein junges, gut zusammen funktionierendes Mozart-Ensemble zusammenzustellen. Das ist der Bayerischen Staatsoper auf ganzer Linie gelungen. Angeführt wird das Ensemble vom bereits erwähnten, in der Kritikerumfrage des Magazins Opernwelt frisch zum Nachwuchssänger des Jahres gekürten Konstantin Krimmel als Figaro. Mit seinem kernigen Bariton wirkt er wie für die Partie gemacht, seine am Liedgesang geübte intelligente Phrasierung und ein gutes Gespür für die feine Ironie im Libretto Da Pontes tun das Übrige. Neben ihm überzeugen vor allem die Sängerinnen: Louise Alder gestaltet die Susanna mit leuchtendem Sopran und großer Strahlkraft besonders im hohen Register. Die Gräfin wird dargestellt von Elsa Dreisig, die neu im Ensemble der Bayerischen Staatsoper ist. Wie schwerelos schwebt ihre Stimme durch den Raum und verleiht der Partie auch da überzeugende Emotion, wo die Personenregie an ihre Grenzen kommt. Einen vokal schlichtweg wunderschönen und darstellerisch überzeugenden Cherubino gibt Avery Amereau. Allen drei Partien gegenüber sind Mozart und Da Ponte mit Arien nicht sparsam gewesen, man wünscht sich trotzdem mehr. Den Grafen gibt Huw Montague Rendall mit schlankem, beweglichen Bariton. Ohne zu wuchtig zu klingen, liefert er vokal jene Bedrohlichkeit, die seiner Figur szenisch fehlt.

Auch die übrigen Darsteller begeistern: Das Intrigantenpaar Marcellina und Bartolo wird von Dorothea Röschmann und Willard White verkörpert. In der Inszenierung ist sie deutlich präsenter als er, weil Evgeny Titov offenkundig kein Interesse daran hat, Bartolo mit irgendeiner Art von Persönlichkeit auszustatten: White muss sich oft damit begnügen, am Rand des Geschehens herumzustehen. Musikalisch kann er aber überzeugen. Auch Röschmanns Marcellina hört man gern zu. Tansel Akzeybek singt souverän den Basilio, Kevin Conners begeistert durch seine komödiantisch gelungene Darstellung des Don Curzio. Eirin Rognerud aus dem Opernstudio der Bayerischen Staatsoper wirkt als Barbarina fast überqualifiziert, so schön singt sie ihre Arie, Barbarinas Vater Antonio wird herrlich grummelig dargestellt von Martin Snell. Zuletzt begeistern auch Seonwoo Lee und Xenia Puskarz Thomas bei ihrem kurzen Auftritt als Mädchen, den Chor hat Christoph Heil wunderbar einstudiert. Ein musikalisch so rundes Ensemble, in dem jeder einzelne Sänger und jede einzelne Sängerin auch für sich so sehr überzeugt, erlebt man selten.

Musikalisch ist der Abend mehr als gelungen – nur wünscht man dem großartigen Ensemble eine Inszenierung, in der ihre Fähigkeiten besser zur Geltung kommen.

 

  • Rezension der GP von Adele Bernhard / Red. DAS OPERNMAGAZIN
  • Bayerische Staatsoper / Stückeseite
  • Titelfoto: Bayer. Staatsoper/ LE NOZZE DI FIGARO/K.Krimmel, A. Amereau/ Foto © Wilfried Hösl
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